E&R : Thierry Meyssan [1], man sieht Sie nicht mehr in Frankreich. Was ist aus Ihnen geworden?

Thierry Meyssan : Ich lebe zurzeit in Libanon. Nachdem Nicolas Sarkozy an die Macht kam, bin ich von hohen französischen Funktionären direkt bedroht worden. Freunde im Verteidigungsministerium haben mich darüber informiert, dass die Vereinigten Staaten mich als Bedrohung für die nationale Sicherheit betrachten. Im Führungskader der Nato haben sie von den alliierten Diensten verlangt, mich auszuschalten, und gewisse Franzosen schienen übereifrig dazu bereit. Ich habe mich daher entschieden, nicht nur Frankreich, sondern den Bereich der Nato zu verlassen. Nachdem ich von Caracas über Damaskus und im Vorbeigehen noch über Moskau gezogen bin, habe ich mich in Beirut niedergelassen, wo ich mich in den Dienst des Widerstandes gestellt habe.

E&R : Worüber arbeiten Sie im Moment?

Thierry Meyssan : Ich arbeite gegenwärtig an einem Buch, einer Analyse der Regierung Obama, ihrer Ursprünge, ihrer Zusammensetzung, ihrer Projekte usw. Eine erste, auf einige Exemplare beschränkte Ausgabe wird nächsten Monat an einige Entscheidungsträger gegeben. Danach wird im Herbst eine Ausgabe für die breite Öffentlichkeit in verschiedenen Sprachen veröffentlicht werden. Ich lebe ausschliesslich von dem, was ich schreibe, und arbeite mit politischen Zeitungen und Zeitschriften im Nahen Osten und in Russland zusammen.

E&R : Wie lautet Ihre Analyse der Entwicklung der amerikanischen Politik?

Thierry Meyssan : Heute verbreitet sich ein relativer Konsens, was den Misserfolg der Politik Bush betrifft – das übermässige militärische Aufgebot, die verhängnisvollen Konsequenzen des Unilateralismus auf die Beziehungen zu den Verbündeten und den Verlust der US-Führungsrolle. Seit dem Jahre 2006 haben sich James Baker und Lee Hamilton, die eine vom US-Kongress eingesetzte Kommission zur Evaluierung der Irak-Strategie präsidierten, für eine Rückkehr zu einer klügeren ­Politik eingesetzt. Sie haben einen Rückzug aus dem Irak empfohlen und sich für eine vorsichtige Annäherung an die Anrainerstaaten (Syrien, Iran) eingesetzt, die unerlässlich ist, um zu vermeiden, dass der Abzug der GIs zu einem Debakel wird wie [in den 70er Jahren] in Vietnam. Die Gruppe hat Donald Rumsfeld zum Rücktritt gezwungen und als Nachfolger Robert Gates, ein Mitglied ihrer Kommission, durchgesetzt. Wohl haben sie die ­Politik der «Neuordnung des Grösseren Nahen Ostens» eingefroren, aber sie haben es nicht geschafft, dass George Bush und Dick Cheney diese aufgaben; aus diesem Grund musste mit Barack Obama eine Zäsur organisiert werden.

In Wirklichkeit wurde Obama seit 2004 für das Rennen in den US-Senat und die Präsidentschaft lanciert. Er betrat die Szene anlässlich des demokratischen Konvents zur Nomination von John Kerry. Er war damals lediglich ein unbedeutender Abgeordneter im Parlament von Illinois, aber schon damals wurde er von Abner Mikva und seinen Mitarbeitern (Jews for Obama) betreut und gedrillt und von der angelsächsischen ­Finanzwelt (Goldman Sachs, JP Morgan, Excelon …) unterstützt. Die Multinationalen Konzerne, die in Sorge waren, ihre Marktanteile je nach Zunahme des Antiimperialismus (Geschäft für Diplomatie) zu verlieren, die Anhänger der Baker-Hamilton-Kommission, die gegen die unsteten Abenteuer der Neokonservativen revoltierenden Generäle und noch weitere haben sich immer mehr um ihn geschart.

Viele Franzosen glauben, der Präsident der Vereinigten Staaten werde auf einer zweiten Stufe durch die Wahlmänner gewählt. Das ist falsch. Er wird von einem Gremium gewählt, dessen Mitglieder von Notabeln, Standesangehörigen, ernannt werden. Im Jahre 2000 [im Zusammenhang mit der 1. Wahl von Georg W. Bush] hat der Oberste Gerichtshof daran erinnert, dass der Urnengang der Bürger lediglich konsultativ ist und dass der Gouverneur von Florida die Delegierten seines Staates für das Wahlgremium für die Präsidentschaftswahl ernennen könne, ohne die Auszählung der Stimmen der Gesamtwahl nur abzuwarten.

In diesem oligarchischen System gibt es eine einzige Partei mit zwei Strömungen: den Republikanern und den Demokraten. Aus rechtlicher Sicht bilden sie nicht zwei verschiedene Körperschaften. So sind es die Staaten, welche die Primärwahlen organisieren, mittels Pseudo-Parteien. Es ist daher nichts Überraschendes dabei, dass sowohl Joe Biden als auch Barack Obama alte Freunde von John McCain sind. So präsidiert McCain das International Republican Institute (IRI), ein Organ des Aussenministeriums, damit beauftragt, die Rechtsparteien in der Welt zu korrumpieren, während Obama im Rahmen des [ebenfalls staatlichen], von Madeleine Albright präsidierten, National Democratic Institute for International Affairs (NDI) arbeitet, welches mit der Korrumpierung der Linksparteien betraut ist. Gemeinsam haben sich McCain, Obama und Albright an der Destabilisierung von Kenia beteiligt – anläss­lich einer CIA-Operation, mit der ein Cousin von Obama als Premierminister durchgesetzt werden sollte.

All das soll zeigen, dass Obama nicht aus dem Nichts kam. Er ist ein Spezialist für Geheimaktionen und Subversion. Er ist für die Durchführung einer ganz genau umschriebenen Arbeit rekrutiert worden.

Wenn die zusammengewürfelte Koalition, die ihn unterstützt, im grossen und ganzen auch die gleichen Ziele verfolgt, so existiert unter deren einzelnen Teilen allerdings kein Konsens bezüglich der Einzelheiten. Das erklärt den unglaublichen Kampf, welchen die Nominierungen verursacht haben und die immer zweideutigen Aspekte der Reden von Obama.

Vier Pole stehen im Kampf miteinander:

1. Der Pol der Verteidigung rund um Brent Scowcroft, Generäle, die im Gegensatz zu Rumsfeld stehen, und natürlich Robert Gates, der heute der wahre Gebieter in Washington ist. Sie empfehlen die Beendigung der Privatisierung der Armee, einen «ehrenhaften» Auszug aus dem Irak, aber die Weiterführung der US-Anstrengungen in Afghanistan, um nicht den Eindruck der Auflösung zu vermitteln, und ­schliesslich ein Abkommen mit den Iranern und den Syrern. Für sie bleiben Russ­land und China Rivalen, die es zu isolieren und lahmzu­legen gilt. Sie gehen an die Finanzkrise heran wie an einen Krieg, im Zuge dessen sie Rüstungsprogramme verlieren und die Grösse der Armeen reduzieren werden, aber eine relative Überlegenheit beibehalten müssen. Solange sie die stärksten bleiben, ist es egal, wenn sie an Macht verlieren.

2. Das Finanz- und das Wirtschaftsdepartement rund um Tim Geithner und Paul Volcker, den Schützlingen der Rocke­fellers. Sie stammen aus der Pilgrims Society und stützen sich auf die Gruppe der Dreissig, das Peterson Institute und die Trilaterale Kommission. Unterstützt werden sie durch Königin Elisabeth II, und sie wollen gleichzeitig die Wall Street und die [Londoner] City retten. Für sie ist die Krise ein harter Schlag, weil sich die Einkünfte der Oligarchie auf Talfahrt befinden, aber es ist vor allem eine traumhafte Gelegenheit zur Konzentration des Kapitals und dazu, die Widerstände gegen die Globalisierung zu zertreten. Sie sind gezwungen, ihren Lebensstil vorübergehend zu mässigen, um keine sozialen Revolutionen auszulösen, aber gleichzeitig können sie sich dadurch bereichern, dass sie industrielle Prunkstücke für ein Stück Brot aufkaufen. Langfristig haben sie das Projekt – nicht gerade eine weltweite Steuer auf das Recht zu atmen, das wäre grobschlächtig –, sondern eine globale CO2-Abgabe und eine Börse für Emissionsrechte zu errichten – was mehr oder weniger auf das Gleiche hinausläuft, aber ökologisch scheint. Im Gegensatz zum Pentagon setzen sie sich für eine Allianz mit China ein, namentlich deswegen, weil es 40% der US-Staatsanleihen hält, aber auch um das Aufkommen eines fernöstlichen Wirtschaftsblocks rund um China zu verhindern und die afrikanischen Rohstoffe abzuführen.

3. Der Pol um das Aussenministerium rund um Hillary Clinton, einer fundamentalen Christin, Mitglied einer sehr geheimen Sekte, der Fellowship Foundation (genannt «Die» Familie). Das ist das Refugium der Zionisten, das letzte Reservat der Neokonservativen auf dem Weg der Auflösung. Sie befürworten eine bedingungslose Unterstützung Israels mit einer Spur Realismus, denn sie wissen, dass das Umfeld sich verändert hat. Es wird nicht mehr möglich sein, Libanon zu bombardieren wie 2006, denn die Hisbollah verfügt heute über leistungsfähige Luftabwehr-Waffen. Es wird nicht mehr möglich sein, nach Gaza einzudringen wie 2008, denn die Hamas hat Kornet-Panzerabwehr-Geschosse erworben. Und wenn die Vereinigten Staaten daran zu schlucken haben, die Rechnungen von Tel-Aviv zu bezahlen, ist es wenig wahrscheinlich, dass die Saudis dies langfristig ausgleichen könnten. Man muss daher Zeit gewinnen, notfalls mittels einiger Konzessionen und strategischen Nutzen für Israel finden.

Die Hauptmission von Frau Clinton besteht darin, das Image der Vereinigten Staaten zu verbessern, nicht nur durch das Knüpfen öffentlicher Beziehungen (das heisst Rechtfertigen der Politik Washingtons), sondern auch durch Publizität (das heisst Anpreisen der realen oder imaginären Qualitäten des US-Modells). In diesem Zusammenhang sollten die Zionisten das Projekt Korbel–Albright–Rice vorantreiben, mit dem die Uno zu einem ausgedehnten impotenten Forum umgestaltet und eine neue Konkurrenzorganisation geschaffen werden soll, die «Gemeinschaft der Demokratien», gestützt auf ihren bewaffneten Arm, die Nato.

Mit dem stellvertretenden Staatssekretär James Steinberg betrachten sie die Finanzkrise wie einen Blitzkrieg. Es wird dabei viel zu Bruch gehen, aber das ist der Moment, um die Rivalen zu vernichten und sich durch Überrumpelung der Steuerknüppel zu bemächtigen. Ihr Problem besteht nicht darin, Reichtümer durch Käufe und Fusionen anzuhäufen, sondern den Finanzministerien und den Spitzen der Bank­institutionen überall auf der Welt ihre Leute aufzuzwingen.

4. Schliesslich macht [als 4. Pol] der Nationale Sicherheitsrat den Einfluss von Zbigniew Brzezinski geltend, der in Columbia der Professor Obamas war. Dieser müsste seine traditionelle Rolle des Koordinierens aufgeben, um zu einem wahrhaften Kommandozentrum zu werden. Er wird von General Jones dirigiert, der Oberkommandierender der Nato war und das African Command aus der Taufe gehoben hat. Für sie ist die Finanzkrise eine Krise der imperialen Strategie. Es ist die enorme Verschuldung, die zur Finanzierung des Krieges im Irak aufgenommen wurde, welche den wirtschaftlichen Zusammenbruch der Vereinigten Staaten herbeigeführt hat. Im Gegensatz zu 1929 wird der Krieg nicht die Lösung sein, er ist das Problem. Man muss daher drei Pläne gleichzeitig verfolgen: Die Kapitalvermögen zwingen, in die Vereinigten Staaten zu kommen, indem man die konkurrierenden Steuerparadiese zerschlägt und die Wirtschaften der entwickelten Länder destabilisiert (wie das in Griechenland getestet worden ist); die Illusion der US-Militärmacht aufrechterhalten, indem man die Besetzung Afghanistans weiterführt; und das Abwürgen der entstehenden Allianzen zwischen Syrien–Iran–Russland und vor allem zwischen Russland und China (die Shanghai Cooperation Organisation). Der [Nationale Sicherheits-]Rat wird alle Formen von Geheimaktionen begünstigen, um dem Pentagon die nötige Zeit zur Reorganisation zu verschaffen.

Obama versucht, sie alle zufriedenzustellen, daher die Konfusion rund um ihn.

E&R : Wie sehen Sie die Entwicklung im Nahen Osten angesichts dieser neuen Administration?

Thierry Meyssan : In einem Punkt besteht Konsens: Washington muss die Spannungen in dieser Region abbauen, ohne damit Israel aufzugeben. Es sind zwei Optionen auf dem Tisch, aber welche auch immer in die Tat umgesetzt werden wird – sie muss von den radikalsten Strömungen unterzeichnet werden. Deshalb hat ­Washington in Israel eine Regierung Netanyahu/Lieberman unterstützt und wird die Hamas und Hisbollah die nächsten Wahlen in den besetzten Gebieten und in Libanon gewinnen lassen.

Das erste Szenario, ersonnen von Zbigniew Brzezinski, sieht die gleichzeitige Anerkennung eines palästinensischen Staates und die Einbürgerung der palästinensischen Flüchtlinge in den Ländern, in denen sie sich befinden, vor. Alles mit Schmiergeldern bezahlt, um die Staaten, welche die Flüchtlinge aufnehmen, zu entschädigen und Gaza und das Westjordanland zu entwickeln. Darüber hinaus soll die Aufrechterhaltung dieses Friedens durch eine Vermittlungs-Streitkraft («force d’interpositions») der Nato unter Uno-Mandat sichergestellt werden. Dieser Plan geniesst die Unterstützung von Nicolas Sarkozy.

Der zweite Ansatz ist gröber für die zwei Protagonisten. Er sieht vor, die Israeli zu zwingen, ihre extravagantesten Ansprüche aufzugeben; während er die Palästinenser darauf verpflichtet, Jordanien als ihre natürliche Heimat zu betrachten. Für Washington wäre das ein ökonomisch besserer und langfristig lebensfähigerer Frieden, auch wenn er für die einen wie für die anderen schwer zu akzeptieren wäre und er nebenbei das Ende der haschemitischen Monarchie implizieren würde. Vorangetrieben wird dieses Vorgehen namentlich von Botschafter Charles Freeman, den die zionistische Lobby vor kurzem genötigt hat, vom Präsidium des Nationalen Rates der Geheimdienste zu demissionieren, der aber über solide Unterstützung im Staatsapparat verfügt.

E&R : Welche Vorgehensweise wird sich Ihrer Meinung nach durchsetzen?

Thierry Meyssan : Keine, denn die Wirtschaftskrise wird ein derartiges Ausmass annehmen, dass sie nach meinem Empfinden zu einem Zerfall der Vereinigten Staaten und zum Ende des Staates Israel führen wird.

Washington wird an seinen Ambitionen einmal mehr Abstriche machen müssen. Es wird sich wahrscheinlich auf die Erhaltung des Status quo zurückziehen müssen. Sein Handeln wird sich darauf beschränken, neue Akteure daran zu hindern, seinen Platz einzunehmen.

E&R : Was empfehlen Sie persönlich?

Thierry Meyssan : Die fünf Millionen Juden, die neun Millionen Palästinenser und die anderen Bevölkerungsgruppen in Palästina müssen sich im Rahmen eines einzigen Staates wiederfinden auf der Grundlage «ein Mann, eine Stimme». Nach meinem Gefühl ist das übrigens die einzige Lösung, mit der sich auf Dauer eine Vertreibung der Juden vermeiden lässt. Man muss sich an die Apartheid in Südafrika erinnern, wo einige ankündigten, ihre Abschaffung würde zur Vertreibung oder Ausrottung der Weissen führen. Man weiss, wie es weiterging. Der Tod von Arafat ist kein Hindernis, denn es existieren weitere Mandelas in Palästina. Das wirkliche Problem besteht darin, einen De Clerk auf israelischer Seite zu finden. Die Hamas würde eine solche Lösung ohne jeden Zweifel unterstützen, denn sie hätte die Zustimmung des Volkes.

Je weiter man die Regelung hinausschiebt desto schwieriger wird eine friedliche Lösung. Die CIA studiert übrigens ein Katastrophenszenario mit einem blutigen Aufstand, der zwei Millionen Juden in die Vereinigten Staaten treiben würde.

E&R : Was ist Ihrer Meinung nach mit Syrien und Iran? Denken Sie, dass ein Krieg möglich ist.

Thierry Meyssan : Ich denke nicht, dass die ­Geheimabkommen, die zwischen den US-Militärs, Syrien und Iran abgeschlossen worden sind, in Frage gestellt werden: Die Vereinigten Staaten haben dazu weder die Mittel und noch nicht einmal den Willen.

Vor allem anderen wissen sie, dass die ­nukleare Bedrohung durch Iran eine Augenwischerei ist, die sie selber produziert haben, so wie sie die irakischen Massenvernichtungswaffen erfunden haben. Im übrigen hat Imam Khomeini die Herstellung und den Einsatz der Atombombe als unmoralisch verurteilt, und man kann sich nicht vorstellen, welche Gruppe in Iran in der Lage sein sollte, ein solches Gebot zu überschreiten.

Zweitens hat die Politik von George Bush Teheran und Damaskus in die Arme Moskaus getrieben, welches übrigens eine grosse internationale Konferenz zum Frieden in Nahen Osten vorbereitet. Von nun an besteht eine Priorität Washingtons darin, diese entstehende Allianz zu zerstören und Iran und Syrien in seine Einflusssphäre zurückzuführen. Es ist sicher naheliegend, dass die beiden letzteren sich teuer verkaufen und sich hüten werden, der einen oder anderen Seite zuzuneigen.

Kurz, die Vereinigten Staaten fühlen sich unter Druck. Ihre Wirtschaft bricht zusammen, es kann gut sein, dass sie nicht mehr lange die Möglichkeit haben, Israel um jeden Preis zu verteidigen. Dies um so mehr, als Tsahal [die israelische Armee] nicht mehr das ist, was sie einmal war. Die israelische Armee ist nicht mehr unbesiegbar. Sie hat einen ­Misserfolg nach dem andern gesammelt – in Libanon, in Gaza und auch, vergessen wir das nicht, in Georgien.

E&R : Sie leben, wie wir gesehen haben, in ­Libanon. Wie ist die Lage dort?

Thierry Meyssan : Die nationale Allianz, die sich rund um den «Courant patriotique libre» [Freie patriotische Bewegung] von Michel Aoun und die Hisbollah von Hassan Nasrallah gesammelt hat, wird ohne Zweifel die nächsten Wahlen gewinnen, wenn sie sich frei halten können. Die Familie Hariri wird nur solange überleben, wie die grossen Mächte darauf zählen, dass sie die Steuern einzieht, um die Auslandschulden Libanons durch das Volk bezahlen zu lassen, obwohl diese zur Hälfte aus der unzulässigen Bereicherung der Hariris herrühren. Der Kriegsverbrecher Walid Dschumblatt, Vize-Präsident der Sozialistischen Internationale, oder die Neo-Faschisten, wie der pathologische Killer Samir Geagea, werden von ihren Sponsoren fallengelassen werden. Diese Vollstrecker niedriger Arbeiten haben ihre Wirksamkeit verloren und sind nicht mehr salonfähig.

Das Sondergericht für Libanon, das mit den Ermittlungen zur Affäre Hariri und verschiedenen politischen Morden betraut ist, wird sich entweder vergessen machen oder Anlass zu einem Theatercoup geben. Es wurde wie eine Kriegsmaschine konzipiert, um Syrien anzuklagen, es unter den Bann der internationalen Gemeinschaft zu bringen und es zum militärischen Ziel zu bestimmen. Ich weiss, dass ihm [dem Gericht] in den letzten Wochen neue Fakten zugegangen sind. Sie entlasten Syrien und bringen Saudi-Arabien auf die Anklagebank. Dies ist der Massstab, an dem das Wieder-in-den-Griff-Nehmen Saudi-Arabiens durch König Abdullah und die Abhalfterung jener Minister, die den Kampf gegen die Hisbollah und die Hamas finanziert haben, messen muss.

Um auf die libanesischen Parlamentswahlen im Juni zurückzukommen: Die Frage ist, ob man sich an einem Sieg der Résistance mit 55% oder mit 70% orientiert. Das hängt im wesentlichen davon ab, ob eine neue christliche Kraft zur Aufspaltung und Ablenkung rund um Präsident Suleiman in Erscheinung tritt oder nicht. Letzten Endes werden die Kollaborateure der Vereinigten Staaten und Israels vielleicht einen Kompromiss aushandeln, soweit sie in der Lage sind, das zu tun. Man würde dann die Nominierung eines Milliardärs als Premierminister (Saad Hariris oder eines anderen) ansteuern, dies aber als Kopf einer Regierung, die vollständig vom nationalen Widerstand kontrolliert wird. Das wäre eine sehr orientalische Formel: die Ehren und den Lichterglanz für die Verlierer, während die wahre Macht im Schatten bliebe. Der Nutzen dieser Lösung wäre es, jeder militärischen Intervention gegen Libanon die Legitimation zu entziehen.

E&R : Sie sind in Russland sehr bekannt, nachdem Sie anlässlich einer Sendung zum ­11. September über 30 MillionenFernsehzuschauer versammelt haben. Wie schätzen Sie die Lage in Russland ein?

Thierry Meyssan : Paradoxerweise geht Russland trotz seines militärischen und diplomatischen Sieges in Georgien durch eine schwierige Phase. Nach dem Krieg im Kaukasus haben die angelsächsischen Banken die Oligarchen dazu ermutigt, Moskau dadurch abzustrafen, dass sie ihr Kapital in den Westen umplazieren. Dann haben die Angelsachsen die ukrainischen Führer dazu gedrängt, ihre nationalen Interessen zu verraten und anlässlich der Preisverhandlungen die Ferngasleitungen zu unterbrechen. Der Kreml, welcher der Meinung war, das Spiel zu beherrschen und die Initiative der Leitungsunterbrüche in der Hand zu haben, ist in die Falle gegangen. Der zweimonatige Umsatzverlust hat die Geldreserven aufgefressen. Das Ganze hat einen beunruhigenden Fall des Rubels provoziert, während die weltweite Krise zu einem Sinken der Rohstoffpreise und damit auch der Einkünfte Russlands führt.

Medwedew und Putin haben diese Situation der Schwäche mit grosser Kaltblütigkeit evaluiert. Sie kennen die Trümpfe, über die sie verfügen, vor allem die technologische Überlegenheit ihrer Rüstungsindustrie über diejenige der Vereinigten Staaten. Sie sind überzeugt, dass die Vereinigten Staaten die Krise nicht überwinden, sondern sich mittelfristig auflösen werden wie der Warschauer Pakt und die UdSSR in den Jahren 1989 bis 1991. Sie hoffen also auf einen Rollentausch. Trotz magerer Zeiten rüsten sie ihre Armeen mit neuem Material aus, und sie warten ohne Murren auf den Untergang des Westens. Öffentlich oder unter der Hand – je nach Fall – versorgen sie alle Gegner der Vereinigten Staaten mit den aktuellsten verfügbaren Waffen, vom bereits erwähnten Nahen Osten bis nach Venezuela. Wirtschaftlich haben sie sich entschieden, Handelsbeziehungen mit China genauso wie mit Westeuropa zu knüpfen, dessen hartnäckige Unterdrückung durch die Angelsachsen sie mit Bedauern beobachten.

Diese Situation kann wichtige Folgen auf innenpolitischer Ebene haben, wo sich alte und junge Generation gegenüberstehen. Die Alten haben eine starke amerikanische Neigung, während die Jungen einen Patriotismus ohne Hemmungen zeigen. Paradoxerweise unterstützen die Eliten, welche aus Sankt Petersburg stammen, historisch eher eine europäische Anbindung Russlands, im Gegensatz zu den Moskowitern, deren Sicht eher euroasiatisch ist. Nun teilen Putin und Medwedew, beide aus St. Petersburg, die euroasiatische Perspektive. Sie träumen von einem Russland, das den Islam schützt, und haben veranlasst, dass es als Beobachter der Organisation der Islamischen Konferenz (OIC) beitritt. Zusammen mit einer Aufwertung des orthodoxen Patriarchats haben sie Moslems in zahlreiche ­Posten mit hoher Verantwortung eingesetzt – der Gegensatz zu Frankreich ist offensichtlich. Auch wenn das Trauma der Zerschlagung Jugoslawiens und der beiden Kriege in Tschetschenien weiterhin stark und der vage Rassismus, der daraus folgte, noch immer nicht bewältigt ist, hat Russland sich für die Zivilisation entschieden und den Weg der Synthese zwischen Europa und Asien beschritten.

Wenn Russland es schafft, durch die nächsten Jahre schwerer internationaler Turbulenzen hindurchzugehen, ohne allzu schwer Schaden zu nehmen, wird es sich in einer Vermittlerposition in einer multipolaren Welt befinden.

E&R : Lassen sie uns diese interessante geopolitische Weltreise mit China fortsetzen.

Thierry Meyssan : Ich frage mich, was ihre Strategie ist. Warum diese massiven Käufe von US-Staatsanleihen? Peking hat über die Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (Shanghai Cooperation Organisation, SCO) die Initiative für eine Annäherung an Moskau ergriffen. Viele Streitsachen sind beigelegt worden. Im Gegenzug haben die Russen eingewilligt, den Chinesen Energie zum Vorzugstarif zu verkaufen, und eine strengere Kontrolle der chinesischen Auswanderung nach Sibirien verlangt. Die Logik hätte verlangt, dass sich die beiden Grossen gegenseitig darin unterstützen, den Dollar als internationales Zahlungsmittel abzulehnen. Aber Peking widerstrebt es, Position zu beziehen, und es will Washington nicht kränken. Die Chinesen betreiben eine sanfte Strategie zur Stärkung ihrer weltweiten Bündnisse. Mir kommt das etwas seltsam vor, denn das könnte sie teuer zu stehen kommen. Die USA könnten sie in ihren vorhersehbaren Untergang mitnehmen.

Erlauben Sie mir, nebenbei meinen Ärger angesichts der stupiden Anprangerung von Menschenrechtsverletzungen in China zu äussern. Es ist ohne jeden Zweifel möglich, dass sie von Peking weit mehr respektiert werden als von Washington – was keine Ausrede dafür ist, sie nicht zu verbessern, aber es relativiert die Anschuldigungen. Und man soll aufhören zu sagen, Tibet sei 1956 von China annektiert worden, als es von den chinesischen Kommunisten, von den Chinesen Tschiang Kai Sheks, zurückgeholt wurde.

E&R : Sagen Sie noch ein Wort zu Südamerika, bevor wir auf Frankreich zurückkommen?

Thierry Meyssan : Jenseits der Tendenz zur Vereinigung sind Strategien gegenüber dem Imperialismus gefestigt worden. Aber die – inzwischen weitere – Schwächung der Vereinigten Staaten schafft eine neue Situation und kann einige dazu veranlassen, ihre Karten neu zu mischen. Der Schutz der Volkswirtschaft ist wieder zum vordringlichen Anliegen geworden. Paradoxerweise sind jene Staaten, die unter Sanktionen leiden, besser gerüstet, um der Krise zu widerstehen. Das sind vor allem Kuba, Venezuela, Bolivien oder Ecuador – so wie das bei Syrien und Iran im Nahen Osten der Fall ist. Wetten wir, dass sich neue nationale Institutionen entwickeln werden, parallel zur Bank des Südens. Das ist die Vergeltung der Geschichte.

E&R : Nun schliesslich noch zu Frankreich oder genauer zum Frankreich Sarkozys …

Thierry Meyssan : Frankreich ist eine alte Nation, die man nicht in jede Richtung manövrieren kann. Es hat eine ruhmvolle Vergangenheit und identifiziert sich mit einem Ideal. Oft entfernt es sich davon, aber es kommt immer wieder darauf zurück. Heute macht es eine schlechte Zeit durch, denn es wird von der «Partei des Auslands» regiert. Seine Führung trifft die schlechte Wahl in der schlechtesten Zeit. Sie haben beschlossen, die Armee dem Kommando der Nato zu unterstellen, konkret unter das von General Bantz Craddock, dem Verbrecher, der das Folterzentrum Guantánamo errichtet hat. Und diesen Verrat haben sie zu einem Zeitpunkt beschlossen, in dem die Vereinigten Staaten in der Krise zusammenbrechen. Sie machen Frankreich zum Anhängsel eines sinkenden Schiffes und ­riskieren, dass es Frankreich in seinen Untergang hineinreisst.

Ihre Unterwürfigkeit treibt sie nicht nur dazu, die Armeen zu Vasallen zu machen, sondern auch dazu, die französische Gesellschaft tiefgreifend zu verändern, um sie gemäss «amerikanischem Modell» zu klonen. Das trifft nicht nur auf wirtschaftlichem Gebiet zu, wo alle Dienstleistungen der öffentlichen Hand von Grund auf in Frage gestellt werden, sondern genauso in den Bereichen des Rechts und der Bildung, der positiven Diskriminierung u.ä.m. Sarkozy gehört weder zur Rechten noch zur Linken, er imitiert die Yankees.

Wie ich detailliert in einem Dossier des russischen Magazins Profil [2] erläutert habe, stellt er drei Kräfte zufrieden: die Angelsachsen, die Mafia und die Bank Rothschild. Diese Leute sind sich der Atemnot der Vereinigten Staaten seit Jahren bewusst und glauben, die Macht der globalen Finanzoligarchie dadurch zu garantieren, dass sie das Imperium wieder ins Gleichgewicht bringen: Es hätte zwei Säulen, eine amerikanische und eine europäische, während das Vereinigte Königreich deren Bindeglied wäre. Diesem Projekt dient Nicolas Sarkozy seit seiner Wahl. Er war es, der das französisch-deutsche Paar zum Bruch geführt hat und sich den Engländern genähert hat; und dann hat er darauf hingeführt, verschiedene Reorganisationen der Europäischen Union vorzuschlagen, vor allem die Schaffung einer Wirtschaftsregierung. Das hätte zur Folge, dass wir den Erschütterungen der USA gegenüber weit verletzlicher würden.

Dennoch rechnet man noch immer mit Frankreich und das nicht nur in der frankophonen Welt. Wir sind ein Land ausserhalb der Norm, das die Volkssouveränität proklamiert hat. In Frankreich wird völlig unterschätzt, mit welchem Grad an Lächerlichkeit Nicolas Sarkozy und seine Clique in den Augen der übrigen Welt erscheinen. Sarkozy erscheint wie ein aufgeregter Prahlhans, ein labiler Mensch voller Ticks, der in allen möglichen internationalen Konflikten den Unersetzlichen spielt, der im Grunde nur lästig ist, und der sich zu seinem Nachteil den Veränderungen der Launen Washingtons anpasst.

Es wird leider Zeit brauchen, wieder eine Alternative aufzubauen, aber das ist kein Grund, davon abzusehen.

Übersetzung: Zeit-Fragen.

[1Thierry Meyssan verfasst und publiziert politische Analysen und ist Gründer des «Réseau Voltaire». Sein letztes Buch trägt den Titel L’Effroyable Imposture 2 – le remodelage du Proche-Orient et la guerre israélienne contre le Liban (Der entsetzliche Betrug Bd. 2 – die Neuordnung des Nahen Ostens und der israelische Krieg gegen Libanon).