Rede von Sahra Wagenknecht in der Haushaltsdebatte des Bundestages am 26.11.2014

Dr. Sahra Wagenknecht (DIE LINKE):

Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Frau Bundeskanzlerin, Sie werden hier gleich ans Mikrofon treten und wieder ausgiebig Ihre Politik loben.

(Unruhe bei der CDU/CSU)

Aber wenn man sich die derzeitige Politik und die derzeitige Situation in Deutschland, in Europa und in der Welt ansieht und wenn man vor allen Dingen Ihre ganz persönliche Mitverantwortung für diese Situation in Rechnung stellt, dann fragt man sich schon, wie Sie darauf auch noch stolz sein können.

(Beifall bei der LINKEN)

Ja, wir leben in einem reichen Land, das gute Autos und international gefragte Maschinen produziert. Aber es ist ein zutiefst gespaltenes Land. Es ist ein Land, in dem selbst fleißige Arbeit nicht mehr vor Armut schützt und in dem inzwischen die Auswahl des Elternhauses wichtiger geworden ist als die Auswahl des Berufs. Es ist ein Land, in dem kaum noch investiert wird, in dem Straßen und Brücken verrotten, in dem viele Kinder in verwahrlosten Wohngebieten aufwachsen,

(Norbert Barthle (CDU/CSU): Sprechen Sie jetzt von Afrika?)

in dem ihnen elementare Bildung vorenthalten wird.

(Michael Grosse-Brömer (CDU/CSU): Um Gottes willen! Wo leben Sie eigentlich?)

Was tun Sie, Frau Bundeskanzlerin? Statt Problemlösungen liefern Sie Taschenspielertricks, statt solider Finanzierungen liefern Sie kreative Buchführung, und statt wirtschaftspolitischer Rationalität liefern Sie okkulte Opferrituale vor Ihrer neuen Göttin, der schwarzen Null, die Ihnen trotz aller Beschwörungsformeln im nächsten Jahr wieder nicht erscheinen wird.

(Beifall bei der LINKEN - Unruhe bei der CDU/CSU)

Solide öffentliche Finanzen gibt es eben nicht ohne eine dynamische Wirtschaft. Es gibt sie nicht ohne Konsumenten, die genug Geld in der Tasche haben, um sich ein gutes Leben leisten zu können, und es gibt sie auch nicht ohne Unternehmen, die genau wegen dieser Nachfrage Anreize haben, zu investieren, statt ihr Geld zu bunkern oder ihre Aktionäre mit immer neuen Rekorddividenden glücklich zu machen. Es gibt solide öffentliche Finanzen auch nicht, wenn gerade die reichsten Familien und die größten Konzerne kaum noch einen müden Euro zur Finanzierung des Gemeinwesens beitragen und der Staat dabei wegschaut.

Und deswegen ist für mich die schwarze Null eigentlich ein Ausdruck einer Null-Kompetenz in der Wirtschaftspolitik.

Das ist das Urteil des Wirtschaftsweisen Peter Bofinger über Ihre Politik, Frau Kanzlerin. Vielleicht erinnern Sie sich auch noch, was Sie im August im schönen Lindau am Bodensee von den Wirtschaftsnobelpreisträgern zu hören bekommen haben. Ich gebe eine kleine Kostprobe:

Merkel verfolgt ... eine völlig falsche Politik.

Merkel scheint den Ernst der Lage nicht kapiert zu haben.

Merkels Rede sei eine einzige Katastrophe gewesen. Wohlgemerkt: Das ist kein Mitschnitt aus einer Mitgliederversammlung der Linken. Das waren die Urteile international renommierter Wirtschaftsnobelpreisträger über Ihre Politik, Frau Merkel. Wenn Sie vielleicht einmal zuhören könnten, vielleicht würde Ihnen das zu denken geben;

(Beifall bei der LINKEN)

aber offensichtlich interessiert Sie das überhaupt nicht.

Weggucken, wegducken, wegreden ‑ das ist Ihr Dreiklang im Umgang mit den Gefahren und Problemen der Gegenwart.

(Michael Grosse-Brömer (CDU/CSU): Das sieht die ganze Welt anders!)

Aber die Gefahren sind einfach zu groß und die Probleme zu ernst, als dass wir so weiter mit ihnen umgehen könnten. Die deutsche Wirtschaft stagniert. Alle Prognosen für das nächste Jahr mussten nach unten korrigiert werden.

Aus konjunkturellen wie aus prinzipiellen Gründen braucht dieses Land endlich mehr Investitionen. Sie haben nun lauthals ein Investitionsprogramm angekündigt. Aber was sieht man, wenn man in das Kleingedruckte schaut? Dann sieht man, dass nach Ihren eigenen Planungen der Anteil der Investitionsausgaben des Bundes weiter sinken soll, nämlich von aktuell 10,1 Prozent auf nur noch 8,3 Prozent im Jahr 2018. So viel wirtschaftspolitische Ignoranz kann einem wirklich die Sprache verschlagen.

(Beifall bei der LINKEN ‑ Norbert Barthle (CDU/CSU): War das ein Versprechen? ‑ Gunther Krichbaum (CDU/CSU): Das wäre schön! Wir wollen Gysi!)

‑ Sie können sich ruhig aufregen. Es wäre aber besser, wenn Sie sich nicht nur aufregen würden, sondern auch Konsequenzen ziehen würden.

(Beifall bei der LINKEN)

Es geht nicht nur um Straßen, es geht auch nicht nur um Brücken, es geht auch um Zukunftstechnologien und Innovationen. Wer meint, dafür wird schon der Markt sorgen, der sollte sich einmal fragen, warum sich eigentlich alle wichtigen digitalen Technologien heutzutage in der Hand von US-Unternehmen befinden, die Möglichkeit zur globalen Überwachung inklusive. Nicht, weil der Markt jenseits des Atlantiks so viel besser funktioniert, sondern weil sich der Staat das zumindest früher ziemlich viel hat kosten lassen. Fast die gesamte Technologie, die heute in einem iPhone steckt, ist doch nicht in Steve Jobs Garage entwickelt worden. Die ist in staatlichen Forschungszentren entwickelt worden. Wer glaubt, dass ein fundamentaler technologischer Umbruch wie die Energiewende möglich wäre ohne massive öffentliche Investitionen in die Erforschung und Umsetzung alternativer Technologien, der hat wirklich nichts verstanden.

(Beifall bei der LINKEN - Michael Grosse-Brömer (CDU/CSU): Sie hatten doch nur Robotron! Die größten Chips der Welt!)

Aber statt über solche Fragen auch nur nachzudenken, verhandelt diese Regierung lieber über Investorenschutz. Genau genommen verhandelt sie nicht, sondern der Wirtschaftsminister führt einen unglaublichen Eiertanz auf, um der Öffentlichkeit Sand in die Augen zu streuen. Ich rede von den geplanten Freihandelsabkommen CETA und TTIP,

(Michael Grosse-Brömer (CDU/CSU): Eine große Chance! Die müssen wir schnell umsetzen!)

und ich rede von den Sondergerichten für große Konzerne, mittels derer diese Konzerne den deutschen Staat in Zukunft für jede Mindestlohnerhöhung und für jedes Umweltschutzgesetz vor den Kadi ziehen können.

(Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Aber offensichtlich hat Herr Gabriel in seiner politischen Laufbahn nicht mehr vor, den Mindestlohn zu erhöhen oder die Umwelt zu schützen. Zumindest habe ich vernommen, dass er der Öffentlichkeit mitgeteilt hat, diese Sondergerichte ließen sich - leider, leider - nicht mehr aus dem Abkommen CETA herausverhandeln. Ja, Herr Gabriel, wenn sich diese Sondergerichte nicht mehr herausverhandeln lassen, dann muss Deutschland diese Abkommen eben ablehnen. Dann muss man CETA ablehnen, und das Gleiche gilt auch für TTIP.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Beide Abkommen haben doch im Kern nur das Ziel, Löhne, Sozialstandards und Verbraucherschutz noch weiter auf Sinkflug zu schicken und den Kapitalismus endgültig vor den Zumutungen der Demokratie zu schützen; das ist doch das, worum es bei diesen Abkommen geht. Das ist das Letzte, was wir brauchen. Denn dann kann man auf Wahlen und Parlamentarismus konsequenterweise auch ganz verzichten. Wenn wir hier im Bundestag keine Gesetze mehr machen können, die den Banken und Konzernen nicht gefallen, dann verkommt das, was wir hier tun, wirklich zu einer schlichten Theatervorstellung. Da muss ich Ihnen sagen: Für ein Theater ist dieses Haus wirklich zu teuer und am Ende vielleicht auch zu wenig unterhaltsam.

(Beifall bei der LINKEN)

Der bekannte Ordoliberale Alexander Rüstow - vielleicht gibt es bei Ihnen noch den einen oder anderen, der ihn kennt - hat bereits vor einem halben Jahrhundert gewarnt, dass - ich zitiere -

der Staat, der damit anfängt, die Raubtiere der organisierten Unternehmerinteressen zu füttern, letzten Endes von ihnen verschlungen wird.

Gerade deshalb haben die Ordoliberalen ja immer wieder davor gewarnt, Unternehmen oder auch Banken so groß oder so mächtig werden zu lassen, dass sie die Allgemeinheit erpressen oder ihr schlicht auf der Nase herumtanzen können. Es war ihre zentrale Botschaft, dass das verhindert werden muss.

„Versagt der Staat auf diesem Felde, dann ist es bald um die soziale Marktwirtschaft geschehen“, war Ludwig Erhards knappe Prognose zu diesem Thema. Gerade Sie von der CDU/CSU, die Sie sich so gern auf Ludwig Erhard berufen, sollten zugeben, dass er recht behalten hat. Der Staat hat auf diesem Feld versagt. Deswegen ist es um die soziale Marktwirtschaft geschehen. Wir haben nämlich keine mehr.

(Beifall bei der LINKEN)

Auch in Brisbane haben Sie, Frau Merkel, und auch die anderen Regierungschefs wieder auf vielen wichtigen Feldern vor den Raubtieren kapituliert: bei der Finanzmarktregulierung, beim Klimaschutz und natürlich auch bei der Bekämpfung der Steuerflucht von Konzernen. Es ist einem schon aufgefallen, wie eilig sich diese Regierung, als die Enthüllungen über die Steuersparmodelle in Luxemburg in der Presse waren, bemüht hat, zur Tagesordnung überzugehen. Nun nehme ich Ihnen ja ab, dass Sie über die Enthüllungen nicht besonders verblüfft waren. Auch ich war nicht besonders verblüfft. Es ist lange bekannt, dass es solche Steuersparmodelle gibt, und zwar nicht nur in Luxemburg, sondern auch in vielen anderen EU-Staaten. Es ist auch bekannt, dass dem deutschen Staat - dem Bund, den Ländern und auch den Kommunen - schätzungsweise 100 Milliarden Euro im Jahr entgehen, weil es solche Modelle gibt. 100 Milliarden Euro!

Die Unternehmen gehen sogar ganz offen damit um, dass sie das praktizieren. Die Deutsche Bank zum Beispiel lobt sich in ihrem Geschäftsbericht ausdrücklich dafür, dass sie durch eine, wie es vornehm heißt, vorteilhafte geografische Verteilung ihres Konzernergebnisses ihre Steuerzahlungen minimiert, sprich die Öffentlichkeit kräftig geschädigt hat. Ich finde, das muss man sich einmal auf der Zunge zergehen lassen: Eine Bank, die es ohne die Milliardenzahlungen der Steuerzahlerinnen und Steuerzahler überhaupt nicht mehr gäbe, die bankrott gewesen wäre, ist auch noch stolz darauf, dass sie solche Modelle nutzt und dadurch die Öffentlichkeit in Milliardenhöhe schädigt. Natürlich ist das kriminell.

(Beifall bei der LINKEN)

Aber genauso kriminell ist eine Politik, die die passenden Gesetze dafür liefert oder eben die passenden Gesetze akzeptiert. Da muss man sich gar nicht hinter der EU verstecken. Natürlich könnten wir solche Praktiken hier in Deutschland verhindern. Man muss einfach gesetzlich festlegen, dass Zinsen, Lizenz- oder Patentgebühren, die im Empfängerland nicht mit wenigstens 25 Prozent besteuert werden, in Deutschland nicht mehr steuerlich abzugsfähig sind. Das könnte man doch gesetzlich regeln.

(Beifall bei der LINKEN)

Wenn Sie zu einem so einfachen Gesetz nicht in der Lage sind, dann hören Sie, verdammt noch mal, auf, der Bevölkerung zu erzählen, was in diesem Land alles angeblich nicht finanzierbar ist, zum Beispiel eine gute Rente. Es ist noch keine Woche her, dass das Statistische Bundesamt alarmierende Zahlen veröffentlicht hat. Danach ist das Armutsrisiko älterer Menschen seit 2006 kontinuierlich gestiegen. Immer mehr ältere Menschen müssen Grundsicherung beantragen. Das heißt ganz brutal: Sie müssen ihren Lebensabend auf Hartz-IV-Niveau fristen.

Was fällt der Bundesregierung dazu ein? Sie kürzen den Bundeszuschuss zur Rentenkasse, um ihre schwarze Null zu retten, und senken auch noch den Beitragssatz zur Rentenversicherung. Je weniger aber in einen Topf eingezahlt wird, desto weniger kann man natürlich auch aus diesem Topf wieder herausnehmen ‑ in diesem Fall für die Rentnerinnen und Rentner ‑, und genau das scheint auch das Ziel zu sein.

Seit den von SPD und Grünen eingeleiteten Rentenkürzungen ist das Rentenniveau in Deutschland von früher 53 Prozent auf 48 Prozent gesunken. In Zukunft soll es noch weiter bergab gehen. Das heißt, bald blüht selbst einem Durchschnittsverdiener nach einem langen Arbeitsleben ein Lebensabend auf Hartz-IV-Niveau. Ich finde, das ist einfach schändlich. Das ist Altersarmut per Gesetz.

(Beifall bei der LINKEN)

Sagen Sie jetzt nicht, das liege am Geld. Gleichzeitig verpulvert der Bund nämlich Milliarden, um die Riester-Rente zu subventionieren. Inzwischen wurden 27 Milliarden Euro dafür verpulvert, Betrugsprodukte zu subventionieren, an denen sich bekanntermaßen nur die Provisionsjäger der Versicherungsindustrie, der Fonds und der Finanzindustrie goldene Nasen verdienen, während die Sparer in der Regel noch nicht einmal das herausbekommen, was sie eingezahlt haben. Und trotzdem soll das alles so weitergehen!

Wie man heute weiß, hat sich der Drückerkönig und Finanzhai Herr Maschmeyer beim damaligen Kanzler Schröder mit immerhin 2 Millionen Euro für dieses zuvorkommende Gesetz bedankt. Frau Nahles, ich weiß nicht, ob Sie hoffen, dass Ihnen irgendwann auch einmal jemand Ihre Biografie für 2 Millionen Euro abkauft. Man muss aber zumindest sagen: Ihr Festhalten an dieser Rentenpolitik ist verantwortungslos und übrigens auch ein klarer Bruch der SPD-Wahlversprechen.

(Beifall bei der LINKEN ‑ Michael Grosse-Brömer (CDU/CSU): Was haben Sie eigentlich gekriegt?)

Hören Sie deshalb auf,

(Gustav Herzog (SPD): Hören Sie auf!)

die Rentenkasse mit Beitragssenkungen und versicherungsfremden Leistungen weiter zu plündern!

(Beifall bei der LINKEN)

Hören Sie auf, öffentliches Geld für Betrugsprodukte zu verschleudern, und stellen Sie wieder eine lebensstandardsichernde Rente ab 65 Jahren für alle Menschen her!

(Beifall bei der LINKEN)

Es brennt aber nicht nur bei der Rente. Vor gut zwei Wochen wurde mit Unterstützung des größten deutschen Sozialverbandes, VdK, eine Verfassungsklage für menschenwürdige Pflege eingereicht. Es geht um die katastrophale Situation und den extremen Personalmangel in vielen Pflegeheimen.

Auch in vielen deutschen Krankenhäusern herrschen heute Zustände, die eines reichen Landes unwürdig sind,

(Dr. Karl Lauterbach (SPD): Das stimmt nicht!)

und auch die Gründe dafür lassen sich mit Zahlen messen: Seit Mitte der 90er-Jahre wurde an deutschen Krankenhäusern jede zehnte Stelle im Pflegebereich abgebaut. Was fällt Ihnen, Frau Bundeskanzlerin, dazu ein? ‑ Deutschland geht es gut, und deshalb kürzen Sie den Bundeszuschuss zum Gesundheitsfonds in den nächsten zwei Jahren mal eben um 6 Milliarden Euro. Mögen Rentner durch Armut gedemütigt werden und Pflegebedürftige früher sterben, Hauptsache die schwarze Null lebt: Das scheint Ihre Logik zu sein. Was ist das für eine unglaubliche Politik!

(Beifall bei der LINKEN ‑ Sabine Weiss (Wesel I) (CDU/CSU): Was ist das für eine unglaubliche Rede! ‑ Weitere Zurufe von der CDU/CSU: Oh!)

„Die Würde des Menschen ist unantastbar“: Das ist der oberste Verfassungsgrundsatz der Bundesrepublik. Er gilt auch für Ältere, Kranke und Pflegebedürftige,

(Beifall bei der LINKEN)

und er steht ausdrücklich nicht unter Finanzierungsvorbehalt. Deswegen fordere ich Sie auf: Beenden Sie die unwürdige Zweiklassenmedizin! Schaffen Sie eine Bürgerversicherung, bei der jeder nach seinem Einkommen einzahlt und gleich gute Leistungen sowohl im Krankheits- als auch im Pflegefall bekommt! Krankheit ist keine Ware, die sich als Objekt von Renditejägern eignet.

(Beifall bei der LINKEN)

Ihre Kürzung des Zuschusses zum Gesundheitsfonds zeigt natürlich auch noch in anderer Hinsicht, wie unehrlich Ihre Politik ist. Das Mantra „Keine Steuererhöhung“ gehört ja zu den Gebetsformeln, die diese Regierung unablässig vor sich hinmurmelt. Sie wissen aber ganz genau, dass die Kürzung des Bundeszuschusses bei vielen Krankenkassen zu Beitragserhöhungen führen wird

(Dr. Karl Lauterbach (SPD): Das stimmt nicht!)

und dass eine Beitragserhöhung das Nettoeinkommen ganz genauso reduziert wie eine Steuererhöhung. Aber richtig: Es gibt einen wichtigen Unterschied. Eine Beitragserhöhung bezahlen ausschließlich die gesetzlich Versicherten, also vor allem die Arbeitnehmer. Sie belastet Normalverdiener weit mehr als Spitzenverdiener. Sogar Menschen mit sehr wenig Einkommen müssen diese Beitragserhöhung mit bezahlen.

Das heißt, Ihr ganzes Gerede gegen Steuererhöhungen ist im Kern vollkommen verlogen. Sie haben überhaupt keine Skrupel, die normalen Beschäftigten, die heute schon die Hälfte ihres Nettoeinkommens für Steuern und Abgaben bezahlen, noch stärker zu belasten. Sie predigen zwar keine Steuererhöhungen. Aber im Kern geht es Ihnen doch darum: keine Steuererhöhung für Reiche. Das ist es doch, was tatsächlich Ihre Politik bewegt. Geben Sie es doch wenigstens zu!

(Beifall bei der LINKEN)

Offenbar, Frau Bundeskanzlerin, hat Ihnen noch niemand den Zusammenhang zwischen Schulden und Vermögen erklärt. Geld verschwindet nämlich nicht; Geld wechselt immer nur den Besitzer. In den letzten 15 Jahren hat unter Ihnen, Frau Merkel, und unter Ihrem Vorgänger Gerhard Schröder ganz besonders viel Geld in Deutschland den Besitzer gewechselt. Viele Milliarden Euro, die einst der Allgemeinheit gehörten, sind auf private Konten gewandert: durch Steuergeschenke an Vermögende und an große Unternehmen und natürlich durch die milliardenschwere Bankenrettung.

Im Ergebnis haben sich in den letzten 15 Jahren eben nicht nur die öffentlichen Schulden, sondern auch die privaten Vermögen der Millionäre und Multimillionäre mehr als verdoppelt. Deshalb wäre die Wiedereinführung einer Vermögensteuer nicht etwa eine Enteignung, wie Sie das immer gerne darstellen, sondern sie wäre im Grunde eine Rückgabe.

(Beifall bei der LINKEN)

Sie würde dafür sorgen, dass das Geld endlich einmal den Besitzer in die andere Richtung wechselt, nämlich weg von den privaten Konten der Millionäre und Multimillionäre und hin zu besserer Bildung, besserer Pflege und guten Renten. Da wäre das Geld auch besser angelegt.

(Beifall bei der LINKEN)

Es fällt übrigens auch auf, dass Sie wieder nur mit den Vermögen der Reichen so rücksichtsvoll umgehen. Bei den Vermögen der kleinen Leute sind Sie viel weniger zimperlich. Die auch durch Ihre Europapolitik und Ihre Kürzungsdiktate verursachte Dauerkrise im Euro-Raum ist die letztliche Ursache für die extremen Niedrigzinsen, die wir zurzeit haben. In der Konsequenz gibt es für normale Sparer mittlerweile kaum noch Anlagen, die auch nur den Werterhalt sichern. Das heißt, anders als der Millionär, der im Schnitt auf sein Vermögen Renditen zwischen 5 und 10 Prozent einfährt, zahlt der Kleinsparer längst mit seinen Spargroschen für Ihre falsche Krisenpolitik.

Aber diese Enteignung der kleinen Leute stört sie offenbar nicht im Geringsten. Das lassen Sie laufen. Nur an das Vermögen des Geldadels wollen Sie nicht heran. Das nennt sich dann Volkspartei;

(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)

eine Partei, die zulässt, dass das Volk enteignet wird, weil sie zu feige ist, an das Geld der oberen Zehntausend heranzugehen, um damit eine vernünftige Antikrisenpolitik zu finanzieren. Das ist wirklich skandalös.

(Beifall bei der LINKEN - Michael Grosse-Brömer (CDU/CSU): Die Welt ist so einfach!)

Das gilt leider nicht nur für die CDU. Auch Herr Gabriel hat sich mittlerweile auf die Fahne geschrieben, die Vermögensteuer auch bei der SPD programmatisch zu entsorgen. Da kann man nur sagen: Mit so einem Vorsitzenden arbeiten Sie wirklich hart daran, dass die SPD nie wieder in die Nähe davon kommt, in diesem Land noch einmal den Kanzler zu stellen.

Nun muss man sagen: Auch andere Parteien hatten Vorsitzende, die sie klein gemacht haben, sogar bis zur letzten Konsequenz.

(Michael Grosse-Brömer (CDU/CSU): Ein Vorsitzender war Lafontaine!)

Eine dieser Parteien ist die FDP gewesen. Ich möchte hier einen Satz zur Ehrenrettung der FDP sagen. Es gibt tatsächlich ein unsoziales Gesetz, das an der FDP gescheitert ist, und zwar das Gesetz zur sogenannten Tarifeinheit. Es ist wirklich unglaublich, dass dieses Gesetz jetzt ausgerechnet von der SPD wieder auf die Tagesordnung gehievt wird.

Schon der Name des geplanten Gesetzes ist doch der blanke Hohn: Gesetz zur Tarifeinheit. Ein Betrieb, ein Tarif: Das soll wieder gelten. Ich darf Sie, werte Damen und Herren von der SPD, daran erinnern, dass Sie selbst es waren, die dieses Prinzip zerstört haben, dass Sie es waren, die es mit den Agendagesetzen den Unternehmen ermöglicht haben, ihre Belegschaft aufzusplitten:

(Widerspruch bei Abgeordneten der SPD)

in Leiharbeiter, in Werkvertragler, in Minijobber, in befristet Beschäftigte. Alle haben natürlich unterschiedliche Tarifverträge.

(Beifall bei der LINKEN)

Sie haben damit alles dafür getan, dass die Gewerkschaften nicht mehr wirklich streikfähig sind; denn bestreiken Sie einmal einen Betrieb, in dem ein Drittel der Beschäftigten in Leiharbeit ist, ein Drittel einen Werkvertrag hat und viele andere einen befristeten Vertrag haben. Einen solchen Betrieb kann man faktisch nicht mehr bestreiken. Entsprechend schlecht ist auch die Lohnentwicklung in Deutschland.

(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)

Wenn Sie der Tarifeinheit wirklich wieder zum Durchbruch verhelfen wollen, dann nehmen Sie die Agendagesetze zurück! Verbieten Sie Leiharbeit und den Missbrauch von Werkverträgen!

(Beifall bei der LINKEN)

Verbieten Sie die sachgrundlose Befristung, die die Beschäftigten in ständiger Abhängigkeit hält! Das wären Reformen, die dieses Land wirklich voranbringen würden. Aber dafür müsste man den Mut haben, sich dem „Raubtier der organisierten Unternehmerinteressen“ entgegenzustellen.

(Widerspruch bei der SPD)

 Ja, nach Alexander Rüstow. Das war ein Zitat, falls Sie das nicht bemerkt haben.

Man hat allerdings den Eindruck, es gibt etwas, das Ihnen, Frau Merkel, noch wichtiger ist als die Interessen der deutschen Unternehmen: Das sind die Interessen der amerikanischen Regierung und der amerikanischen Wirtschaft. Bei Ihrer Rede in Sydney, Frau Merkel, haben Sie sich furchtbar darüber empört, dass es 25 Jahre nach dem Fall der Mauer immer noch altes Denken in Einflusssphären gibt, das das internationale Recht mit Füßen tritt. „Wer hätte das für möglich gehalten?“, wurden Sie zitiert. Man fragt sich ernsthaft, Frau Merkel: Wo leben Sie eigentlich? Und wo haben Sie in den letzten Jahren gelebt?

(Michael Grosse-Brömer (CDU/CSU): Bei Ihrer Rede frage ich mich auch, wo Sie leben!)

Wo haben Sie gelebt, als die USA das internationale Recht im Irak mit Füßen getreten haben, um ihre Einflusssphäre auf das irakische Öl auszudehnen? Wo waren Sie, als unter Beteiligung Deutschlands das internationale Recht in Afghanistan mit Füßen getreten wurde, was es im Übrigen immer noch wird? Wo waren Sie, als Libyen bombardiert wurde und als die syrische Opposition aufgerüstet wurde, Waffenlieferungen an den IS eingeschlossen?

War das alles Ihrer Meinung nach in Übereinstimmung mit dem internationalen Recht? Selbstverständlich ging es dabei auch nie um Einflusssphären.

Ich darf Ihnen die Lektüre eines Buches von Zbigniew Brzezinski, langjähriger Vordenker der US-Außenpolitik, empfehlen.

(Max Straubinger (CDU/CSU): Sie lesen die falschen Bücher!)

Das Buch aus dem Jahr 1997 trägt den schönen Titel Die einzige Weltmacht: Amerikas Strategie der Vorherrschaft. In Bezug auf Europa plädiert Brzezinski darin für eine konsequente NATO-Osterweiterung zunächst nach Mitteleuropa, dann nach Süden und über die baltischen Republiken bis zur Ukraine, und zwar weil, wie der Autor schlüssig begründet - ich zitiere - „mit jeder Ausdehnung … automatisch auch die direkte Einflusssphäre der Vereinigten Staaten erweitert“ wird.

Dieses alte Denken in Einflusssphären, das sehr erfolgreich umgesetzt wurde, ist Ihnen wirklich nie aufgefallen, Frau Merkel?

(Beifall bei der LINKEN)

Dabei gehörten Sie doch zu denen, die genau das in Europa weiter umgesetzt und unterstützt haben. Sie gehörten doch zu den Vasallen, um in der Sprache Brzezinskis zu bleiben, die genau diese Strategie mitgetragen haben.

Präsident Dr. Norbert Lammert:

Frau Wagenknecht, darf Ihnen der Kollege Weiler eine Zwischenfrage stellen?

Dr. Sahra Wagenknecht (DIE LINKE):

Bitte schön.

Albert Weiler (CDU/CSU):

Sehr geehrte Frau Wagenknecht, vielen Dank, dass ich eine Zwischenfrage stellen darf. Sie haben gerade die SPD beschimpft und kein gutes Haar an ihr gelassen.

(Zuruf von der SPD: Das habt ihr früher auch!)

Ich kann dem in Teilen nicht zustimmen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Aber in Thüringen wiederum ist die SPD gut genug dafür, Ihren Herrn Ramelow auf das Pferd zu setzen. Dort nutzt man diese Partei aus, die man jetzt so beschimpft, um einen Vorteil daraus zu ziehen und den Herrn zum Ministerpräsidenten zu machen. Man gibt der SPD mehr Ministerien, als eigentlich notwendig ist, und alle solche Dinge. Das passt vorne und hinten nicht zusammen.

(Widerspruch bei der LINKEN)

Hier wird über diese alte Volkspartei geschimpft,

(Beifall bei der CDU/CSU)

und in Thüringen wird sie ausgenutzt, um den eigenen Mann nach oben zu hieven. Wie ist das möglich, Frau Wagenknecht?

Danke schön.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Dr. Sahra Wagenknecht (DIE LINKE):

Ich nehme zur Kenntnis, dass die CDU das Trauma von Thüringen immer noch so bewegt, dass Sie das selbst in diese Haushaltsdebatte tragen.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Wenn ich der SPD vorwerfe, dass sie mit ihrer Politik alles dafür tut, dass sie ihre Glaubwürdigkeit nicht wiedergewinnt und damit auch bei Wahlergebnissen von 26 Prozent bleibt, und dass sie damit nie wieder den Kanzler stellen wird, dann geschieht das aus Sorge um dieses Land,

(Lachen bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

weil ich mir wünsche, dass Frau Merkel nicht ewig Bundeskanzlerin bleibt und dass Sie nicht ewig den Bundeskanzler stellen können,

(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)

und weil ich mir wünsche, dass es eine andere und linke Politik in diesem Land geben kann.

Aber ich darf Sie beruhigen: Ich werde gleich die SPD noch in einem Punkt loben. Auch das werden Sie noch zu hören bekommen.

(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)

Ich würde mir auch wünschen, dass es in Zukunft mehr Gründe geben würde, die SPD zu loben. Das fände ich zumindest sehr gut.

(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)

Ich war bei Brzezinski, der NATO-Osterweiterung und der deutschen Politik in dieser Hinsicht stehen geblieben. Frau Merkel, jetzt haben Sie Deutschland in die Neuauflage eines kalten Krieges mit Russland hineingetrieben, der das politische Klima vergiftet und den Frieden in ganz Europa gefährdet.

(Zurufe von der CDU/CSU: Oh!)

Sie haben einen sinnlosen Wirtschaftskrieg angezettelt, der vor allem der deutschen und der europäischen Wirtschaft massiv schadet.

(Zurufe von der CDU/CSU: Oh!)

 Da Sie so stöhnen: Sie müssen ja nicht in den Unternehmen sitzen, denen die Aufträge wegbrechen. Sie sind da nicht Arbeitnehmer oder Unternehmer. Sie müssen das nicht ausbaden, was Sie angerichtet haben.

(Beifall bei der LINKEN)

Sie warnen vor einem Flächenbrand, Frau Merkel. Aber Sie gehören doch zu denen, die mit brennendem Zündholz herumlaufen. „Verbale Aufrüstung war noch immer der Anfang von Schlimmerem.“ Das hat Ihnen Hans-Dietrich Genscher nach Ihrer Rede in Sydney zugerufen.

Nein, man muss Putin wirklich nicht mögen. Man muss auch den russischen Kapitalismus mit seinen Oligarchen nicht mögen.

(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)

Aber Diplomatie heißt, die Interessen des Gegenübers ernst zu nehmen und sich nicht ignorant über sie hinwegzusetzen. Es fällt schon auf, dass Helmut Kohl und Michail Gorbatschow nahezu wortgleich warnen, dass ohne eine deutsch-russische Partnerschaft keine Stabilität und keine Sicherheit in Europa möglich sind. Der frühere SPD-Vorsitzende Platzeck hat darauf hingewiesen, dass der Handel zwischen Russland und den USA in diesem Jahr zugenommen hat, während der Handel zwischen Russland und Europa und vor allen Dingen Deutschland massive Einbrüche erlebt hat. Als Reaktion arbeitet die CDU/CSU daran, sogenannte vermeintliche Russland-Versteher wie Herrn Platzeck aus dem Petersburger Dialog herauszudrängen.

Statt auf Verstehen setzen Sie offenbar lieber auf Unverstand. In der Ukraine kooperieren Sie mit einem Regime, in dem wichtige Funktionen des Polizei- und Sicherheitsapparates mit ausgewiesenen Nazis besetzt werden. Der Präsident Poroschenko redet vom totalen Krieg und hat den Krankenhäusern und den Rentnern in der Ostukraine alle Zahlungen abgeklemmt. Für Premier Jazenjuk sind die Aufständischen - ich zitiere - „Unmenschen, die es auszulöschen gilt“. Statt sich mit solchen Hasardeuren zu verbünden,

(Carsten Schneider (Erfurt) (SPD): Ja, sind die gewählt oder sind die nicht gewählt?)

brauchen wir endlich wieder eine deutsche Außenpolitik, der Sicherheit und Frieden in Europa wichtiger sind als Anweisungen aus Washington.

(Beifall bei der LINKEN - Widerspruch bei der CDU/CSU und der SPD)

In einem Jahr, in dem sich der Beginn des Ersten Weltkriegs zum 100. und der Beginn des Zweiten Weltkriegs zum 75. Mal jährt, wäre es dringend angebracht, sich an die Aussage Willy Brandts zu erinnern: „Krieg ist nicht mehr die Ultima Ratio, sondern die Ultima Irratio.“ Krieg darf kein Mittel der Politik mehr sein, Frau Merkel.

(Beifall bei der LINKEN)

Deshalb: Kehren Sie auf den Weg der Diplomatie zurück! Stellen Sie die Sanktionen ein! Sollten sich in der SPD tatsächlich die Stimmen der außenpolitischen Vernunft durchsetzen - von Helmut Schmidt bis Matthias Platzeck ‑, dann, bitte, Frau Merkel, hören Sie auf Ihren Koalitionspartner. Beenden Sie dieses Spiel mit dem Feuer!

(Beifall bei der LINKEN)

Ich fasse zusammen.

(Christine Lambrecht (SPD): Oh nein!)

Ihre Politik, Frau Merkel, spaltet Deutschland und versündigt sich an der Zukunft, weil Sie nicht den Mut haben, sich den organisierten Interessen von Banken und Konzernen entgegenzustellen. Sie haben das Erbe der Entspannungspolitik verspielt und Europa in einen neuen kalten Krieg und an den Rand eines Flächenbrands geführt, weil Sie nicht den Mut haben, der US-Regierung Paroli zu bieten. Das ist keine Bilanz, auf die Sie stolz sein sollten. Die Bürgerinnen und Bürger dieses Landes jedenfalls haben eine bessere Politik verdient, eine Politik, die den Anspruch auf Wohlstand für alle endlich wieder ernst nimmt und die zurückkehrt zu einer Politik der guten Nachbarschaft mit allen europäischen Nachbarn.

(Beifall bei der LINKEN - Johannes Kahrs (SPD): Ziemlich mäßige Rede!)