Frau Bundeskanzlerin,
Herr Teltschik,
meine Damen und Herren!

Ich danke Ihnen für die Einladung zu einer so repräsentativen Konferenz, die Politiker, Militärs, Unternehmer und Experten aus über 40 Ländern zusammengeführt hat.

Das Format der Konferenz bietet mir die Möglichkeit, auf übertriebene Höflichkeitformeln zu verzichten, auf diplomatische Klischees, die sich angenehm anhören, aber hohl sind. Das Format der Konferenz bietet mir die Möglichkeit zu sagen, was ich wirklich über die Probleme der internationalen Sicherheit denke. Sollten meine Überlegungen meinen Kollegen allzu polemisch oder ungenau erscheinen, bitte ich Sie, es mir nicht übel zu nehmen. Dies ist nur eine Konferenz und ich hoffe, dass Herr Teltschik nicht schon nach den ersten zwei oder drei Minuten meiner Rede die rote Lampe einschaltet.

Bekanntlich umfasst die Problematik der internationalen Sicherheit viel mehr als die Fragen der militärpolitischen Stabilität. Die Probleme betreffen die Stabilität der Weltwirtschaft, die Überwindung der Armut, die wirtschaftliche Sicherheit und die Entwicklung des Dialogs zwischen den Zivilisationen.

Dieser umfassende und unteilbare Charakter der Sicherheit spiegelt sich in deren Grundprinzip wider: „Die Sicherheit jedes Einzelnen ist die Sicherheit aller.“ Wie Franklin Roosevelt bereits in den ersten Tagen des Zweiten Weltkrieges sagte: „Wo auch immer der Frieden gebrochen wird, die ganze Welt gerät dadurch in Gefahr“.

Diese Worte sind bis heute aktuell. Davon zeugt übrigens auch das Thema unserer Konferenz: „Globale Krisen – globale Verantwortung“.

Noch vor zwei Jahrzehnten war die Welt ideologisch und wirtschaftlich gespalten und ihre Sicherheit wurde von den gigantischen strategischen Potentialen zweier Großmächte gewährleistet.

Die globale Konfrontation rückte dringende wirtschaftliche und soziale Fragen an den Rand der internationalen Beziehungen und der weltweiten Tagesordnung. Der Kalte Krieg hat uns – wie jeder Krieg – bildlich ausgedrückt „Blindgänger“ hinterlassen. Ich meine damit ideologische Klischees, Doppelstandards und sonstige Schablonen des von der Existenz der Blöcke geprägten Denkens.

Die nach dem Kalten Krieg vorgeschlagene monopolare Welt ist nicht zustande gekommen.

Natürlich kennt die Geschichte der Menschheit auch Perioden mit monopolarem Zustand und mit dem Streben nach der Beherrschung der Welt. In der Geschichte der Menschheit hat es in dieser Hinsicht bereits so ziemlich alles gegeben.

Was ist aber eine monopolare Welt? Wie auch immer dieser Begriff ausgeschmückt werden mag – in der Praxis bedeutet er nur eines: ein einziges Machtzentrum, ein einziges Gewaltzentrum und ein einziges Entscheidungszentrum.

Dies ist die Welt eines einzigen Gebieters, eines einzigen Souveräns. Im Endeffekt ist sie nicht nur für diejenigen verderblich, die sich innerhalb dieses Systems befinden, sondern auch für den Souverän selbst, weil dieses System sich von innen zerstört.

Das hat mit Demokratie nichts zu tun, denn Demokratie ist bekanntlich die Macht der Mehrheit bei gleichzeitiger Berücksichtigung der Interessen und Meinungen der Minderheit.

Übrigens werden uns, Russland, dauernd Lektionen in Sachen Demokratie erteilt. Aber diejenigen, die uns belehren, wollen aus irgendeinem Grunde selbst nicht lernen.

Ich glaube, dass das monopolare Modell für die heutige Welt nicht nur unannehmbar, sondern völlig unmöglich ist. Nicht nur weil bei der Führung durch einen Einzelnen in der heutigen – gerade der heutigen – Welt weder die militärpolitischen noch die wirtschaftlichen Ressourcen ausreichen würden. Was noch wichtiger ist: Das Modell selbst funktioniert nicht, weil es sich nicht auf die moralische Basis der gegenwärtigen Zivilisation stützt und auch nicht stützen kann.

Dennoch ist alles, was sich heute in der Welt abspielt – und wir haben gerade erst begonnen, darüber zu diskutieren – eine Folge der Versuche, gerade diese Konzeption, die Konzeption der monopolaren Welt, in die internationalen Angelegenheiten hineinzupflanzen.

Und was kommt dabei heraus?

Die einseitigen, oft unrechtmäßigen Handlungen haben kein einziges Problem gelöst. Mehr noch: Sie haben zu neuen menschlichen Tragödien und zu neuen Spannungsherden geführt. Urteilen Sie selbst: Die Kriege, die lokalen und regionalen Konflikte sind nicht weniger geworden. Herr Teltschik hat das gerade recht zurückhaltend erwähnt. Dabei sterben in diesen Konflikten nicht weniger, sondern mehr Menschen als früher. Wesentlich mehr – wesentlich mehr!

Heute beobachten wir eine durch fast nichts gebremste überzogene Anwendung von militärischer Gewalt in den internationalen Angelegenheiten. Einer Gewalt, die die Welt in einen Abgrund aufeinander folgender Konflikte stößt. Folglich werden wir nicht stark genug sein, auch nur einen dieser Konflikte abschließend zu lösen. Auch ihre politische Lösung wird unmöglich sein.

Wir beobachten eine immer stärkere Geringschätzung der grundlegenden Prinzipien des Völkerrechts. Mehr noch: Einzelne Normen, fast schon das gesamte Rechtssystem eines einzelnen Staates – zuerst und vor allem der Vereinigten Staaten –, haben in jeder Hinsicht die nationalen Grenzen überschritten. Das zeigt sich in den wirtschaftlichen, politischen, kulturellen und bildungsbezogenen Strategien, die anderen Staaten aufgedrängt werden. Wem gefällt das? Wer könnte sich darüber freuen?

In den internationalen Angelegenheiten trifft man immer häufiger auf das Bestreben, diese oder jene Frage nach dem sogenannten Kriterium der politischen Zweckmäßigkeit mit Bezug auf das aktuelle politische Klima zu lösen.

Das ist natürlich äußerst gefährlich und führt dazu, dass sich niemand mehr sicher fühlt. Ich möchte das betonen: Es fühlt sich niemand mehr sicher, weil niemand mehr den Schutzwall des Völkerrechts in Anspruch nehmen kann. Eine solche Politik beschleunigt offensichtlich das Wettrüsten.

Das Übergewicht des Gewaltfaktors fördert zwangsläufig den Drang einiger Länder zum Besitz von Massenvernichtungswaffen. Mehr noch: Es sind prinzipiell neue Bedrohungen wie zum Beispiel der Terrorismus entstanden, die früher zwar schon bekannt waren, aber heute global bedeutend werden.

Ich bin überzeugt, dass wir den entscheidenden Moment erreicht haben, wo wir uns ernsthaft Gedanken über die Architektur der globalen Sicherheit machen müssen.

Wir müssen ein vernünftiges Gleichgewicht der Interessen aller Teilnehmer am internationalen Dialog suchen – um so mehr, als sich die internationale Landschaft so wesentlich und so schnell verändert durch die dynamische Entwicklung einer ganzen Reihe von Staaten und Regionen.

Frau Bundeskanzlerin hat es bereits erwähnt. Das summierte BIP Indiens und Chinas, an der paritätischen Kaufkraft gemessen, ist bereits größer als das der Vereinigten Staaten. Und das auf gleiche Art berechnete BIP der BRIC-Staaten – Brasilien, Russland, Indien und China – übersteigt das Gesamt-BIP der Europäischen Union. Den Experten zufolge wird dieser Abstand in absehbarer Zukunft weiter wachsen.

Ohne Zweifel wird das Wirtschaftspotential der neuen Zentren des globalen Wachstums zwangsläufig in politischen Einfluss umgesetzt werden und die Multipolarität stärken.

In diesem Zusammenhang gewinnt die Rolle der multilateralen Diplomatie zunehmend an Bedeutung. Die Notwendigkeit von Prinzipien wie Offenheit, Transparenz und Berechenbarkeit ist in der Politik ohne Alternative, während die Gewaltanwendung eine wirklich außergewöhnliche Maßnahme sein sollte wie auch der Gebrauch der Todesstrafe in den Rechtssystemen einiger Staaten.

Heute beobachten wir allerdings im Gegenteil, dass Länder, in denen die Anwendung der Todesstrafe sogar in Bezug auf Mörder und andere gefährliche Verbrecher verboten ist, sich dennoch leichtfertig zur Teilnahme an Militäroperationen entschließen, die sich kaum als legitim bezeichnen lassen. Und in diesen Konflikten sterben Menschen – Hunderte und Tausende von Zivilisten!

Dabei stellt sich die Frage: Sollen wir gleichgültig bleiben und abseits stehen bei verschiedenen inneren Konflikten in bestimmten Ländern, angesichts des Handelns autoritärer Regimes und Tyrannen oder bei der Verbreitung von Massenvernichtungswaffen? Das ist das Wesen der Frage, die unser verehrter Kollege Herr Lieberman [1] an Frau Bundeskanzlerin gestellt hat. (An Joseph Lieberman gewendet:) Wenn ich Ihre Frage richtig verstanden habe, ist sie natürlich eine ernsthafte Frage! Können wir teilnahmslose Beobachter sein bei dem, was sich abspielt? Ich versuche ebenfalls, Ihre Frage zu beantworten: Natürlich können wir das nicht.

Aber haben wir die Mittel zur Verfügung, um diese Bedrohungen abzuwehren? Ja, die haben wir. Es genügt, sich an die jüngste Geschichte zu erinnern. Ist nicht in unserem Land der Übergang zur Demokratie ein friedlicher gewesen? Immerhin hat das Sowjetregime eine friedliche Transformation erlebt – eine friedliche Transformation trotz der großen Mengen an Waffen, einschließlich der Kernwaffen, über die es verfügte! Warum sollte man heute bei jeder möglichen Gelegenheit bombardieren und schießen? Kann es sein, dass es uns ohne die Bedrohung durch gegenseitige Vernichtung an politischer Kultur und an Achtung der demokratischen Werte und des Rechts fehlt?

Ich bin davon überzeugt, dass nur die Charta der Vereinten Nationen der Mechanismus zur Beschlussfassung über die Anwendung militärischer Gewalt als letztes Argument sein kann. In diesem Zusammenhang habe ich entweder nicht verstanden, was unser Kollege, der italienische Verteidigungsminister [2], vor kurzem sagte, oder er hat sich nicht exakt ausgedrückt. Ich jedenfalls habe gehört, dass die Anwendung von Gewalt nur dann als legitim gelten könne, wenn der Beschluss von der NATO, der Europäischen Union oder der UNO getroffen wird. Wenn er wirklich so denkt, dann haben wir unterschiedliche Standpunkte. Oder ich habe nicht richtig gehört. Als legitim kann die Anwendung von Gewalt nur gelten, wenn der Beschluss von den Vereinten Nationen genehmigt wird. Die Organisation der Vereinten Nationen braucht nicht durch die NATO oder die Europäische Union ersetzt zu werden. Wenn die UNO die Kräfte der internationalen Völkergemeinschaft wirklich vereinigt und tatsächlich auf Ereignisse in verschiedenen Ländern reagieren kann, wenn wir die Geringschätzung des Völkerrechts überwinden, dann wird sich die Situation ändern können. Anderenfalls wird die Situation in eine Sackgasse geraten und die Zahl der schweren Fehler vergrößern. Gleichzeitig muss man darauf hinarbeiten, dass das Völkerrecht hinsichtlich der Konzeption und der Anwendung der Normen einen universellen Charakter hat.

Und man darf nicht vergessen, dass eine demokratische Handlungsweise in der Politik unbedingt eine Diskussion und die genaue Ausarbeitung der Entscheidungen voraussetzt.

Sehr geehrte Damen und Herren!

Die potentielle Gefahr einer Destabilisierung der internationalen Beziehungen ist auch mit der offensichtlichen Stagnation auf dem Gebiet der Abrüstung verbunden.

Russland setzt sich für eine Wiederaufnahme des Dialogs über diese überaus wichtige Frage ein.

Es ist wichtig, den völkerrechtlichen Rahmen als Basis für die Abrüstung zu bewahren und dadurch die Fortsetzung des nuklearen Abrüstungsprozesses zu sichern.

Mit den Vereinigten Staaten haben wir die Reduzierung unseres strategischen Nuklearwaffenpotentials auf 1.700 bis 2.200 nukleare Sprengköpfe bis zum 31. Dezember 2012 vereinbart. Russland beabsichtigt, die übernommenen Verpflichtungen strikt einzuhalten. Wir hoffen, dass unsere Partner genauso transparent handeln und nicht ein paar hundert Nuklearsprengköpfe für alle Fälle zurücklegen. Wenn uns der neue Verteidigungsminister der Vereinigten Staaten heute erklärt, dass die Vereinigten Staaten diese überzähligen Sprengköpfe nicht in Waffendepots, sozusagen unter dem Kopfkissen oder unter der Decke verstecken werden, dann bitte ich Sie aufzustehen und zu seinen Worten zu applaudieren. Dies wäre eine überaus wichtige Erklärung.

Russland hält am Atomwaffensperrvertrag und am Raketentechnologie-Kontrollregime fest und beabsichtigt, dies auch weiterhin zu tun. Die in diesen Dokumenten verankerten Grundsätze haben einen universellen Charakter.

In diesem Zusammenhang möchte ich daran erinnern, dass die UdSSR und die Vereinigten Staaten in den 1980er Jahren einen Vertrag über die Beseitigung einer ganzen Klasse von Kurz- und Mittelstreckenraketen unterzeichnet haben. Diese Dokumente haben aber keinen universellen Charakter.

Heute besitzt bereits eine ganze Reihe von Ländern solche Raketen: Nord- und Südkorea, Indien, Iran, Pakistan und Israel gehören dazu. Viele Staaten der Welt entwickeln solche Systeme und wollen sie ihrem Waffenarsenal hinzufügen. Nur die Vereinigten Staaten und Russland haben die Verpflichtung, keine solchen Rüstungssysteme zu entwickeln.

Natürlich müssen wir uns unter diesen Bedingungen Gedanken über die Gewährleistung unserer Sicherheit machen.

Gleichzeitig darf die Entstehung neuer destabilisierender hochtechnologischer Waffenarten nicht zugelassen werden – selbstverständlich sind Maßnahmen zur Verhinderung neuer Konfrontationsbereiche, insbesondere im Weltraum, gemeint. Sternenkriege sind bekanntlich keine Fantasie mehr, sondern Realität. Schon Mitte der 1980er Jahre waren unsere amerikanischen Partner in der Lage, ihren eigenen Satelliten abzufangen.

Eine Militarisierung des Weltraums könnte nach Meinung Russlands unberechenbare Folgen für die internationale Gemeinschaft haben und nichts Geringeres als den Beginn eines nuklearen Zeitalters provozieren. Wir haben mehrmals Initiativen auf den Weg gebracht, um den Waffen den Weg ins All zu versperren.

Heute möchte ich Sie darüber informieren, dass wir den Entwurf eines Vertrages über die Verhinderung der Waffenstationierung im Weltraum vorbereitet haben. Demnächst wird er unseren Partnern als offiziellerVorschlag zugestellt. Lassen Sie uns gemeinsam daran arbeiten.

Die Pläne zur Stationierung von Teilen eines Raketenabwehrsystems in Europa können uns nur beunruhigen. Wer braucht diese neue Runde des Wettrüstens, die in diesem Fall unvermeidlich wäre? Ich zweifle stark daran, dass die Europäer selbst sie brauchen.

Raketen mit einer Reichweite von 5.000 bis 8.000 Kilometern, die Europa tatsächlich bedrohen könnten, hat keines der sogenannten „Problemländer“. Solche wird es in absehbarer Zukunft nicht geben, sie sind noch nicht einmal vorhersehbar. Selbst ein hypothetischer Abschuss beispielsweise einer nordkoreanischen Rakete über Westeuropa gegen das Gebiet der USA widerspricht eindeutig den Gesetzen der Ballistik – wie man bei uns in Russland sagt: als ob man mit der rechten Hand ans linke Ohr fassen würde.

Hier in Deutschland muss ich auch den kritischen Zustand des Vertrags über Konventionelle Streitkräfte in Europa erwähnen.

Der Adaptierte Vertrag über Konventionelle Streitkräfte in Europa wurde 1999 unterzeichnet. Er berücksichtigte die neue geopolitische Realität – die Auflösung des Warschauer Paktes. Sieben Jahre sind inzwischen vergangen, und nur vier Staaten, einschließlich der Russischen Föderation, haben dieses Dokument ratifiziert.

Die NATO-Länder haben offen erklärt, dass sie den Vertrag, einschließlich der Bestimmungen über die Flankeneinschränkungen (über die Stationierung einer bestimmten Zahl von Streitkräften an den Flanken) nicht ratifizieren werden, solange Russland nicht den Rückzug von seinen Stützpunkten in Georgien und Moldawien vollzieht. Aus Georgien werden unsere Truppen abgezogen und zwar in einem beschleunigten Verfahren. Die Probleme, die wir mit unseren georgischen Kollegen hatten, haben wir geregelt, und das ist allen bekannt. In Moldawien bleibt eine Gruppierung von 1.500 Armeeangehörigen mit dem Auftrag, den Friedens zu sichern und Munitionsdepots aus der Sowjetzeit bewachen. Wir besprechen diese Frage laufend mit Herrn Solana: Er kennt unsere Position. Wir sind bereit, in dieser Richtung weiterzuarbeiten.

Was geschieht aber zum gleichen Zeitpunkt? Zum gleichen Zeitpunkt werden in Bulgarien und Rumänien sogenannte flexible Fronten US-amerikanischer Basen mit jeweils 5.000 Soldaten stationiert. Das bedeutet, dass die NATO ihre Frontkräfte an unsere Staatsgrenzen heranrückt, während wir den Vertrag streng einhalten und auf dieses Vorgehen in keiner Weise reagieren.

Ich denke, es ist offensichtlich, dass der Prozess der NATO-Erweiterung mit der Modernisierung der Allianz oder mit der Gewährleistung der Sicherheit in Europa nichts zu tun hat. Im Gegenteil, dies ist ein Faktor, der eine ernsthafte Provokation bedeutet und das Niveau des gegenseitigen Vertrauens herabsetzt. Wir haben das Recht, offen zu fragen: Gegen wen ist diese Erweiterung gerichtet? Und was ist aus den Versicherungen geworden, die von westlichen Partnern nach der Auflösung des Warschauer Paktes gegeben wurden? Wo sind diese Erklärungen heute? Daran erinnert sich niemand mehr. Ich gestatte mir aber, in diesem Raum daran zu erinnern, was gesagt wurde. Ich möchte ein Zitat aus der Rede des NATO-Generalsekretärs Wörner am 17. Mai 1990 in Brüssel anführen. Er sagte damals: „Die Tatsache, dass wir bereit sind, keine NATO-Truppen außerhalb des Territoriums der Bundesrepublik Deutschland zu stationieren, gibt der Sowjetunion feste Sicherheitsgarantien.“ Wo sind diese Garantien heute?

Die Steine und Betonblöcke aus der Berliner Mauer sind längst als Souvenirs verteilt worden. Man darf aber nicht vergessen, dass der Mauerfall dank einer historischen Wahl möglich geworden ist, einer Wahlentscheidung auch unseres Volkes – des russischen Volkes – für Demokratie und Freiheit, Offenheit und aufrichtige Partnerschaft mit allen Mitgliedern der großen europäischen Familie.

Jetzt will man uns aber bereits neue Trennlinien und Mauern aufzwingen, die zwar virtuell sind, aber unseren gemeinsamen Kontinent dennoch aufteilen und zerschneiden. Werden dann wieder viele Jahre und Jahrzehnte sowie der Wechsel von mehreren Politikergenerationen erforderlich sein, um diese neuen Mauern abzutragen und zu zerlegen?

Sehr geehrte Damen und Herren!

Wir treten eindeutig für die Stärkung des Atomwaffensperrvertrags ein. Der bestehende Rahmen des Völkerrechts erlaubt es, Technologien zu entwickeln, mit denen Nuklearbrennstoff hergestellt und zu friedlichen Zwecken genutzt werden kann. Viele Staaten möchten eine eigene Atomenergiewirtschaft aufbauen, um so ihre Unabhängigkeit von Energielieferungen abzusichern. Wir wissen jedoch, dass diese Technologien auch für die Herstellung von waffenfähigem Material genutzt werden können.

Das löst weltweit tiefe Besorgnis aus. Ein bezeichnendes Beispiel dafür ist die Situation um das iranische Atomprogramm. Wenn die Weltgemeinschaft in diesem Interessenkonflikt keine vernünftige Lösung findet, wird die Welt auch weiterhin von destabilisierenden Krisen nicht verschont bleiben, denn es gibt weitere Schwellenländer als den Iran. Wir alle wissen dies. Wir werden kontinuierlich gegen die Gefahr der Verbreitung von Massenvernichtungswaffen kämpfen müssen.

Im vergangenen Jahr hat Russland die Gründung internationaler Zentren für die Urananreicherung angeregt. Wir plädieren dafür, dass solche Zentren nicht nur in Russland, sondern auch in anderen Staaten gegründet werden, nämlich dort, wo die friedliche Nutzung von Atomenergie legalisiert ist. Die Staaten, die ihre Atomenergiewirtschaft entwickeln möchten, könnten an der Arbeit dieser Zentren teilnehmen und garantiert Kernbrennstoff bekommen, natürlich unter der strengen Kontrolle durch die Internationale Atomenergie-Organisation (IAEO).

Mit diesem russischen Vorschlag stehen auch die jüngsten Initiativen von US-Präsident George Bush im Einklang. Meines Erachtens sind Russland und die USA in gleichem Maße an der Verstärkung des Regelwerks für die Nichtweiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen und deren Entwicklung interessiert. Unsere Staaten sind führend im Hinblick auf ihr Atomwaffen- und Raketenpotential und müssen daher bei der Ausarbeitung neuer, schärferer Kontrollmaßnahmen auf dem Gebiet der Nichtweitergabe eine führende Rolle spielen. Russland ist zu dieser Arbeit bereit. Wir sind in Beratungen mit unseren amerikanischen Freunden.

Es geht allgemein um die Schaffung eines Systems von politischen Hebeln und wirtschaftlichen Anreizen, die bei anderen Staaten das Interesse wecken sollen, ihre Atomenergie zu entwickeln und das eigene Energiepotential zu verstärken, ohne einen eigenen Kernbrennstoffkreislauf zu schaffen.

In diesem Zusammenhang möchte ich näher auf die internationale Energiekooperation eingehen. Auch Frau Bundeskanzlerin hat dieses Thema angesprochen, wenn auch kurz. Auf dem Energiesektor strebt Russland danach, marktgerechte Bedingungen zu schaffen, die für alle gleich und transparent sind. Kein Zweifel, dass der Preis für Energieträger auf dem freien Markt bestimmt werden muss, anstatt Mittel für politische Spekulationen, wirtschaftlichen Druck oder Erpressung zu sein.

Wir sind für die Zusammenarbeit offen. Ausländische Unternehmen sind an den größten unserer Energieprojekte beteiligt. Auf ausländisches Kapital entfallen nach verschiedenen Schätzungen bis zu 26 Prozent der gesamten russischen Ölförderung – bitte denken Sie über diese Zahl nach – bis zu 26 Prozent des geförderten Erdöls entfallen auf ausländisches Kapital. Versuchen Sie bitte, mir ein Beispiel von einer ähnlich breiten Beteiligung russischer Unternehmen an Schlüsselbereichen der Wirtschaft westlicher Staaten zu nennen. Es gibt keins.

Ich möchte auch an das Verhältnis der Investitionen, die nach Russland fließen, zu den russischen Investitionen im Ausland erinnern. Dies Verhältnis liegt bei 15 zu 1. Das ist ein hervorragendes Zeugnis für die Offenheit und Stabilität der russischen Wirtschaft.

Die wirtschaftliche Sicherheit ist ein Bereich, wo sich alle an einheitliche Grundsätze halten müssen. Wir sind zu einem fairen Wettbewerb bereit.

Dazu hat die russische Wirtschaft immer mehr Möglichkeiten. Diese Dynamik schätzen sowohl die Experten wie unsere ausländischen Partner vorurteilslos ein. So wurde kürzlich durch die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) die Bonitätseinschätzung Russlands nach oben korrigiert: Aus der vierten Risikogruppe stieg unser Land in die dritte auf. Heute in München möchte ich unseren deutschen Kollegen für ihre Unterstützung bei dieser Entscheidung danken.

Wie Sie wissen, hat der Beitritt Russlands zur Welthandelsorganisation (WTO) bereits die Endphase erreicht. Im Zuge der langwierigen Verhandlungen haben wir mehr als einmal Worte von Redefreiheit, Handelsfreiheit und Chancengleichheit gehört, allerdings aus irgendeinem Grunde ausschließlich mit Bezug auf den russischen Markt.

Ein weiteres wichtiges, unmittelbar für die globale Sicherheit relevantes Thema ist die Armut. Gegenwärtig wird viel über den Kampf gegen die Armut gesprochen. Aber was entwickelt sich in Wirklichkeit? Einerseits werden stattliche Summen für Hilfsprogramme zugunsten der ärmsten Länder bewilligt. Doch um ehrlich zu sein – und viele von Ihnen wissen dies –, diese Summen werden oft von einheimischen Unternehmen der Geberstaaten benutzt. Andererseits werden die Subventionen für die Landwirtschaft der Industrieländer nicht gestrichen, dadurch wird der Zugang anderer Länder zu Hochtechnologien begrenzt.

Lassen Sie uns die Dinge benennen, wie sie sind: Mit der einen Hand vergibt man Spenden, während mit der anderen nicht nur die wirtschaftliche Rückständigkeit konserviert wird, sondern auch Profite abgeschöpft werden. Die wachsenden sozialen Spannungen in den rückständigen Regionen führen unweigerlich zu einer Zunahme an Radikalismus und Extremismus, sie fördern den Terrorismus und lokale Konflikte. Wenn all dies zum Beispiel in einer Region wie im Nahen Osten geschieht, mit seiner zugespitzten Vorstellung von der Außenwelt als einer ungerechten Welt, dann entsteht das Risiko einer globalen Destabilisierung.

Klar und deutlich müssen die führenden Länder der Welt diese Bedrohung sehen und dementsprechend ein System von globalen Wirtschaftsbeziehungen mit mehr Demokratie und mehr Gleichheit aufbauen – ein System, das allen eine Chance und eine Möglichkeit zur Entwicklung gibt.

Verehrte Damen und Herren, beim Auftritt auf einer Sicherheitskonferenz darf man das Wirken der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) nicht mit Stillschweigen übergehen. Diese Organisation wurde bekanntlich mit dem Ziel gegründet, sich mit allen – ich betone dies – mit allen Sicherheitsaspekten zu befassen: mit militärischen, politischen, wirtschaftlichen und humanitären und insbesondere mit den Beziehungen zwischen diesen Bereichen.

Aber was ereignet sich heute vor unseren Augen? Wir sehen, dass das Gleichgewicht deutlich zerstört ist. Es wird versucht, die OSZE in ein gewöhnliches Instrument im Dienst der außenpolitischen Interessen eines Staates oder einer Gruppe von Staaten gegen andere Staaten zu verwandeln. Diese Aufgabe erfüllt auch der bürokratische Apparat der OSZE, der mit den Gründungsländern in keinerlei Beziehung steht. Auf diese Aufgabe wurde auch das Verfahren der Beschlussfassung und der Einbeziehung der so genannten Nicht-Regierungs-Organisationen zugeschnitten. Diese Organisationen sind formell zwar unabhängig, werden aber zielstrebig finanziert und stehen dementsprechend unter Kontrolle.

Im humanitären Bereich ist die OSZE den Gründungsdokumenten zufolge dazu aufgerufen, den Mitgliedsländern der Organisation auf deren Bitte bei der Einhaltung der internationalen Menschenrechts-Normen beizustehen. Das ist eine wichtige Aufgabe. Wir unterstützen sie. All das bedeutet aber nicht, dass man sich in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten einmischen darf, geschweige denn ein Regime aufzwingen, das entscheidet, wie diese Staaten zu leben und sich zu entwickeln haben.

Ganz offensichtlich trägt eine solche Einmischung nicht zur Entwicklung wahrhaft demokratischer Staaten bei, sondern sie macht diese Länder abhängig und folglich politisch und wirtschaftlich instabil.

Wir erwarten, dass sich die OSZE von ihren unmittelbaren Aufgaben leiten lässt und Beziehungen zu souveränen Staaten auf der Grundlage von Achtung, Vertrauen und Transparenz aufbaut.

Sehr geehrte Damen und Herren!

Zum Schluss möchte ich Folgendes sagen. Unsere europäischen Partner rufen Russland oft – und mich persönlich sehr oft – auf, eine aktivere Rolle in den internationalen Angelegenheiten zu spielen.

Ich gestatte mir eine kleine Bemerkung dazu. Es ist kaum notwendig, uns dazu anzuregen. Russland ist ein Land mit einer mehr als tausendjährigen Geschichte und hatte fast immer das Privileg, eine unabhängige Außenpolitik betreiben zu können.

Wir haben auch heute nicht die Absicht, diese Tradition aufzugeben. Gleichzeitig sehen wir gut, wie sich die Welt geändert hat und schätzen unsere eigenen Möglichkeiten und Fähigkeiten realistisch ein. Wir möchten es mit ebenfalls verantwortungsbewussten und selbständigen Partnern zu tun haben, mit denen wir am Aufbau einer Welt mit mehr Demokratie und Gleichheit arbeiten können, in der Sicherheit und Wohlstand nicht nur für die Eliten, sondern für alle garantiert sind.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

Übersetzung
Sabine

[1Als Befürworter eines militärischen Einsatzes gegen den Iran ist Senator Joseph Liebermann der Anführer der Falken in der US-amerikanischen Linken. Er positioniert sich auf der Linie des ausgesprochen antirussischen Henry „Scoop“ Jackson, einer Vaterfigur der Neokonservativen. Anm.d.Red.

[2Arturo Parisi. Anm.d.Red.