Es ist ein unerwartetes Phänomen: Am Abend des 23. August haben sich zehntausende Libanesen gegenüber dem Serail, der Residenz des Premierministers, versammelt, ohne durch politische, konfessionelle oder Gewerkschaftsführer dorthin gerufen zu sein. Kein Transportdienst war organisiert worden wie bei all den Demonstrationen der letzten zehn Jahre. Die Libanesen reagierten spontan auf den Aufruf der Vereinigung „Ihr stinkt!“, die aus Anlass der Müllkrise gegründet worden war.

Die Versammlung hatte mit Slogans zur Müllkrise begonnen, im weiteren Verlauf folgten Parolen aus den „Arabischen Frühling“: „Das Volk will den Sturz der Regierung!“. Nach Provokationen bekämpften die Ordnungskräfte die Demonstration und verletzten dabei 70 Personen.

Seit einem Monat ist die Regierung nicht in der Lage, die Müllabfuhr zu sichern. Infolge unterschiedlicher Vereinbarungen wurden die Hauptstadt und mehrere Städte, aber nicht alle, gereinigt. Die Notlösungen erreichen den Sättigungspunkt und die Krise ist im Begriff, in Beirut wieder von vorne zu beginnen, während manche Dörfer schon in öffentliche Müllhalden verwandelt worden sind. Diese Krise schließt sich an die der Strom- und Wasserversorgung an. Die Regierung schafft es nicht, vier Stunden am Tag die Elektrizität sicherzustellen und liefert kein sauberes Wasser mehr. Die Libanesen sind gezwungen, Generatoren auszuleihen und sich Wasser in Bottichen ins Haus liefern zu lassen, um sich waschen zu können, während ihr Land als der potentielle „Wasserturm der Levante“ gilt.

Alle bürgerlichen Familien haben Hausangestellte aus Afrika oder Indien. Das Gesetz organisiert die häusliche Versklavung, indem es den Hausherrn verpflichtet, die Ausweispapiere seiner „Angestellten“ zu beschlagnahmen. Bis vor zwei Monaten hatten die Hausangestellten nicht das Recht, ohne die Einwilligung ihres Herrn eine Liebesbeziehung zu unterhalten.

Innerhalb von zehn Jahren, seit dem Abzug der syrischen „Friedenstruppe“, die beschuldigt wurde, das Land besetzt zu halten, hat der Staat sich langsam aufgelöst. Zunehmend zieht sich jeder Libanese auf seine Gemeinde zurück und kann dadurch weder sie noch die Führung noch die Politik in Frage stellen. Seit einem Jahr gibt es keinen Staatspräsidenten mehr; der letzte, General Michel Sleiman, war unter Verstoß gegen die Verfassung gewählt und in Abwesenheit seines Vorgängers durch den Emir von Qatar eingeführt worden. Es gibt auch keine Regierung mehr, sondern nur gelegentliche Versammlungen der Minister, die sich zanken ohne fähig zu sein, Entscheidungen zu treffen. Nie hat der Staat seit dem Abzug der Syrer funktioniert und nie ist über den Haushalt abgestimmt worden.

Bei allen Konfliktfällen einschließlich der Müllbeseitigung liegt der Ursprung im weit verbreiteten Betrug. Die Skandale ereignen sich alltäglich, aber sie schockieren nicht mehr und sie werden nicht verfolgt. Viele Minister und Parlamentarier stellen ihre Korruption öffentlich zur Schau. Das Land weist die höchste Anzahl von Milliardären pro Bewohner auf, während die Normalbürger in großes Elend absinken.

Die politischen Parteien sind fast alle konfessionell gebunden, ihre Führer sind erblich und ihre Finanzierung ist durch ausländische Staaten abgesichert. Im Allgemeinen zahlt man keine Mitgliedsbeiträge an eine politische Partei, sondern man wird von ihr bezahlt, um an ihren Sitzungen teilzunehmen.

Das Heer ist die einzige einvernehmiche Institution, aber es kann nur mit Unterstützung der politischen Führer agieren und greift deshalb nur ein, um den Terrorismus auf nationalem Gebiet zu verfolgen. Die Designation des neuen Stabschefs hat zu lebhafter Kritik geführt, die diesem Status des Heeres ein Ende zu machen scheint. Die nationale Verteidigung wird hauptsächlich durch eine angesehene private Institution gesichert, den militärischen Zweig der Hisbollah, dem es mit einer Handvoll Freiwilliger gelungen ist, in 2006 die israelische Armee in die Flucht zu schlagen. Ihr politischer Zweig beginnt aber, durch die allgemeine Korruption Schaden zu nehmen.

Im Rahmen des regionalen Waffenstillstands, der von den Verhandlungen über die iranische Nutzung der Kernenergie herrührt, rufen die großen Mächte nach einer neuen Teilung des Landes. Sie würde den zivilen Frieden sichern, aber die alltäglichen Probleme der Libanesen nur noch vergrößern. Andere untersuchen die Option eines Militärputsches, denn die Situation erscheint ausweglos. Die einzige Lösung wäre ein tiefgreifender institutioneller Wandel – der dem konfessionellen System ein Ende setzt, das die Franzosen aufgezwungen haben – auf der Grundlage des Prinzips „ein Mensch, eine Stimme“ und mit Garantie für die Rechte der Minderheiten.

Der Libanon ist ein von den Briten und Franzosen geschaffener künstlicher Staat, der bis zum Bürgerkrieg (1975 – 1990) als „die Schweiz des Vorderen Orient“ bezeichnet wurde.

Übersetzung
Sabine