german-foreign-policy.com: Es heißt, der Elysée-Vertrag habe große Bedeutung für die deutsch-französische Versöhnung gehabt. Sie vertreten hingegen die Ansicht, dass die wirtschaftliche und politische Zusammenarbeit zwischen Frankreich und Deutschland, die die Grundlage dieser "Versöhnung" ist, nicht aus der Zeit nach dem Zweiten, sondern aus der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg stammt.

Annie Lacroix-Riz: Die deutsch-französische Zusammenarbeit stammt aus der Zeit nach 1918, aber auch schon aus der Zeit vor 1914. Die Appeasement-Politik, die aus der Konzentration, dem Zusammenschluss und den Bündnissen des (französischen, deutschen und deutsch-französischen) Kapitals geboren wurde, ist bereits vor 1914 eingeleitet worden. Sie hat in Frankreich Debatten ausgelöst, es standen sich zwei Linien gegenüber - die harte Linie von Delcassé und die Linie des Kompromisses von Rouvier, die von jenen unterstützt wurde, die verkündeten, dass die Bündnisse des Kapitals ein Faktor der Verständigung seien und dass man letzten Endes vielleicht den Krieg vermeiden könne (was Karl Kautsky glaubte, der vor 1914 die These vertrat, es gebe einen "Super-Imperialismus", der den Krieg ausschließe). Die Frage, die sich zwischen den zwei Kriegen stellte, hatte sich schon vor dem Ersten Weltkrieg gestellt - und sie hat sich von neuem nach dem Zweiten Weltkrieg gestellt, mit der europäischen Integration.

gfp.com: Gibt es einen gemeinsamen Nenner?

Lacroix-Riz: Die europäische Integration wurde vom deutsch-französischen Standpunkt aus symbolisiert durch die Beziehungen zwischen den Schwerindustrien beider Länder, das heißt, zwischen dem Eisenerz der Lorraine und der Ruhrkohle, die ganz offensichtlich ihre Beziehungen nach der französischen Niederlage von 1870 knüpften. Sie ist geboren worden aus dem Verhältnis zwischen der deutschen Eisen- und Stahlindustrie und den großen französischen Hütten. Die Bündnisse von 1870 bis 1914, die in einer Debatte über eine mögliche "Versöhnung" ihren Ausdruck fanden, beinhalteten für Frankreich die Alternative zwischen kolonialer Expansion und "Revanche" im Elsaß. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts machten es sich die herrschenden Kreise Frankreichs in ihren zwischenimperialistischen Beziehungen zu Deutschland zur Gewohnheit, Deutschland nicht nur wirtschaftlich, sondern auch politisch als einen Schlüsselfaktor zu betrachten. Von diesem Standpunkt aus bestimmte 1870/71 - von der mangelnden Vorbereitung Frankreichs auf den Krieg bis zum Appell Bismarcks, die Pariser Kommune niederzuschlagen - das Schema von 1940. Dem Thema "koloniale Expansion versus ’Revanche’ im Elsaß" folgte 1938, zwischen dem "Anschluss" Österreichs und dem "Münchener Abkommen", das Thema "’imperialer Rückzug’ Frankreichs versus ’freie Hand im Osten’ für das Reich", wobei der französische Imperialismus auf seinen äußeren Einfluss verzichtete.

gfp.com: Und das setzte sich fort?

Lacroix-Riz: Ja. Sie haben dasselbe nach dem Ersten Weltkrieg. Ein Mann der französischen Hüttenindustrie, Raymond Poincaré, ein Günstling der de Wendel (wie nach ihm auch Robert Schuman), hat illustriert, wie man gleichzeitig eine Politik der Umsetzung der Bestimmungen von Versailles und, ungeachtet aller Legenden, eine Politik der Zusammenarbeit betreiben kann. Er war es, der 1923 vor Deutschland kapitulierte, vor allem aus Gründen der deutsch-französischen Beziehungen, sehr kurz nach der Ruhrbesetzung - unter der deutschen Drohung, die geheimen Chemieabkommen von 1919 mit der IG, einer Vorläuferin der IG Farben, zu blockieren: Kuhlmann konnte nicht auf die Umsetzung der Vereinbarungen verzichten. Der starke deutsche Druck, um die französische Chemieindustrie zur Kapitulation zu zwingen, wurde durch Washingtons Erpressung auf der Ebene der Finanzen zugunsten des französischen Rückzugs von der Ruhr ergänzt, die Ende 1923 wirksam wurde: Sie bahnte den Dawes-Plan (1924) und die Liquidierung der "Reparationen" an. Diese Konfiguration fand sich auch in anderen Industriebranchen, darunter die Eisen- und Stahlindustrie, und sie wurde aufrechterhalten. Die deutsch-französische Kollaboration, das heißt die Tendenz zur "Versöhnung", ist eine beständige Strömung gewesen, weil das französische Großkapital sich letzten Endes jede Selbständigkeit gegenüber dem Reich untersagt hat - seit 1870.

gfp.com: Im Anschluss an die Okkupation Frankreichs durch das Reich im Jahr 1940 setzte sich die Kollaboration fort...

Lacroix-Riz: Das französische Großkapital hat nicht kollaboriert, weil es besiegt worden war, es ist - unter aktiver Beteiligung - besiegt worden, weil es die Wahl getroffen hatte, vorbehaltlos unter den Bedingungen einer sehr umfassenden Ungleichheit zu kollaborieren. Die Kollaboration von 1940 bis 1944 war, wie die Niederlage selbst, eine unmittelbare Folge der Kollaboration der Jahre 1920 bis 1940, deren Stationen ich in meiner Arbeit "Le choix de la défaite" ("Die Wahl der Niederlage") dargestellt habe. Es handelt sich um eine Zusammenarbeit auf allen Gebieten, kommerziell (einschließlich der Kartelle), finanziell und politisch-ideologisch. All ihre Formen hat es nach dem Krieg gegeben, besonders aber seit 1925/26, seit der berühmten offiziellen "Versöhnung", die die Gründung des internationalen Stahlkartells im September 1926 krönte. Man hat Kapitalbündnisse geschlossen, Bündnisse, die manchmal sehr umfassend waren, oft geheim, besonders seit 1933, in einem neutralen Land, etwa in der Schweiz. Aber der Höhepunkt der deutsch-französischen Zusammenarbeit war logischerweise die Okkupation: Sie vergrößerte die Chancen für die umfassenden industriellen und finanziellen Pläne der Deutschen, die ihren Partnern nur minimale Anteile zugestanden (beispielsweise auf den internationalen Märkten) - ein magerer Anteil, den die Partner schon vor dem Krieg akzeptiert hatten, insbesondere über die Kartelle in der Hüttenindustrie, der Chemie etc.

gfp.com: Gab es nach der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs einen Wechsel in der französischen Politik gegenüber Deutschland?

Lacroix-Riz: Der Zweite Weltkrieg war eine Katastrophe für die Bevölkerungen, aber er hat keinen politischen Wechsel in einem Frankreich nach sich gezogen, das nach der Befreiung von einer allgemeinen Status Quo-Politik gekennzeichnet war; die Politik der französischen Kapitulation vor dem deutschen Modell hat sich sogar noch verschärft. Durch die schändliche Niederlage von 1940 aus seiner Großmachtstellung verdrängt, hat Frankreich zu seinen eigenen Motiven für die Appeasement-Politik gegenüber Deutschland noch Zugeständnisse auf Druck der Vereinigten Staaten hinzugefügt, ein Druck, der viel wirksamer war als nach dem französischen Sieg von 1918. Die amerikanischen Motive waren dieselben wie 1918 und in der Zwischenkriegszeit: Das Expansionsprogramm von Roosevelt und seinen Nachfolgern war dasselbe wie die 14 Punkte von Wilson und seinen Nachfolgern; dass man sich vorrangig auf Deutschland stützte, das Land, das die stärkste Kapitalkonzentration aufwies und am engsten mit den Vereinigten Staaten verbunden war, um einen gewaltigen "europäischen" Markt zu schaffen, eine "offene Tür" für ihre Waren und für ihr Kapital, setzte 1945 wie 1918 eine Politik voraus, die vorrangig auf den Wiederaufbau Deutschlands zielte: ihr vorrangiger Wirtschaftspartner, Dreh- und Angelpunkt ihrer Investitionen in Europa, durfte keine Reparationen an die französischen, britischen und - 1945 - sowjetischen etc. Rivalen zahlen. Nun, der wahre Sieger des Krieges war nach 1945 amerikanisch, nicht französisch (vernachlässigen wir hier die Sowjetunion, die unbestreitbar militärischer Sieger, aber erschöpft war).

Noch viel weniger gab es eine französische "Deutschlandpolitik" im Sinne einer unabhängigen oder selbständigen Politik. Seit 1948 und der Schaffung der "Trizone" unter amerikanischem Druck hat Frankreich jeglicher Selbständigkeit in Westdeutschland entsagt: Washington untersagte es ihm, Reparationen zu entnehmen (im Ludwigshafener BASF-Werk, wo sich die gesamte Führungsebene der IG Farben aus der Hitlerzeit halten konnte, etc.). Alles ging im selben Schritt. Es hat, ungeachtet anderslautender Proklamationen, nie eine "Deutschlandpolitik" gegeben, und das ist eine der Ursachen für den freiwilligen Rücktritt von Charles de Gaulle im Januar 1946 gewesen, wenngleich er behauptet hatte, Frankreich besitze Garantien "hinsichtlich des Rheins". De Gaulle hat formal Widerstand geleistet, er hat oft "Nein" gesagt, aber wenn Sie die Wirtschaftsdossiers des Quai d’Orsay durchsehen, dann stellen Sie fest, dass die Politik Frankreichs, auch unter seiner Amtsführung, keine Beziehung zu seinen offiziellen Proklamationen hatte: Das Land, im Innern der amerikanischen Einflusssphäre, hatte nicht die Mittel, um sie zu verwirklichen.

Logischerweise entwickelten sich die Dinge - Frankreich war besiegt worden, nicht siegreich - viel schneller als vor dem Zweiten Weltkrieg. Und das, zumal Washington Paris unbedingt benötigte, um seine Deutschlandpolitik umzusetzen. Nichts verdeutlicht das besser als der militärische Verzicht so kurze Zeit nach einer Okkupation, die eindeutig umfassender, grausamer und kostspieliger war als diejenige von 1914 bis 1918: tatsächlich fünf Jahre nach dem Ende des Krieges, offiziell neun Jahre. Man stelle sich Frankreich vor, wie es 1923 alle ökonomischen Bestimmungen von Versailles aufgibt (das ist der Sinn der EGKS im Jahr 1950) und 1927 alle politisch-militärischen Bestimmungen (offizielle Wiederbewaffnung im Oktober 1954 gemäß den Pariser Verträgen von 1954). Und was ich für September 1944 bis Januar 1946 gesagt habe, das gilt auch für 1958 bis 1969.

gfp.com: Das Ergebnis war die europäische Integration. Was bedeutet sie für Frankreich?

Lacroix-Riz: Die offizielle Zustimmung zu einer Politik, die Deutschland (Westdeutschland, das zum wiedervereinigten Deutschland werden sollte) vor den Konsequenzen seiner Niederlage von 1945 schützt. Die europäische Integration wurde als solche begriffen und analysiert, ungeachtet der großartigen Reden über das versöhnte "Europa".

Die Rede, die Robert Schumann - ein Gefolgsmann Washingtons, das sich ihm von 1948 bis 1952 aufdrängte wie seinem eigenen Außenminister - am 9. Mai 1950 hielt, folgte Jahren amerikanischen Drucks, der über den Botschafter Frankreichs in Washington übertragen wurde, Henri Bonnet (1945 bis 1955 - nach seiner Pensionierung wurde er in den Vorstand zahlreicher Erdölunternehmen berufen, darunter auch amerikanische). Bonnet hatte nicht aufgehört - auch nicht Bidault (Vorgänger von Schuman) gegenüber -, die Integration Westdeutschlands in das "europäische" Projekt der Vereinigten Staaten zu preisen, den Verzicht auf jeglichen Widerstand etc. Als Schuman am 9. Mai 1950 seine Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) lancierte, die von "gut informierten Kreisen" als Wiederauferstehung des internationalen Stahlkartells von 1926 gefeiert wurde, da verkündete man der Bevölkerung, dass nun der allgemeine Friede herrsche, dank Männern wie Schuman, Adenauer, Gasperi (deren faschistische oder nazistische Vergangenheit man ganz beachtlich ausschmückte), dass der Comité des Forges und seine Waffenhändler besiegt seien, dass die Schwerindustrie friedlich werde etc.

Nun, am 10. Mai, musste, erstens, Schuman zur Londoner Konferenz zu einem der ersten Treffen der NATO fahren (der Militärorganisation des Atlantikpaktes, der im April 1949 unterzeichnet worden war), auf dem Washington (mit britischer Unterstützung) ihm offiziell die Frage nach der Wiederherstellung der deutschen Armee stricto sensu stellte: um "die zahlreichen kampferprobten Generationen der Wehrmacht" zu nutzen, hatte Bonnet am 19. März 1949 erklärt. Der Wirbel um die EGKS erlaubte es, diese offizielle Etappe der Wiederbewaffnung der BRD hinauszuschieben.

Zweitens wurde - besonders auf Zusammenkünften hoher Beamter zu den drohenden Stilllegungen der französischen (und belgischen) Minen, die sich gegen die Ruhr-Konkurrenz nicht halten konnten - die wirkliche ökonomische Frage gestellt: diejenige der europäischen Wirtschaftsintegration mit internationaler Arbeitsteilung. Man hat, um die Bevölkerung zu überzeugen, dieselben Argumente wie im September 1931 benutzt, als Laval André François-Poncet, einen Mann des Comité des Forges, als Botschafter in Berlin inthronisierte und offiziell die wirtschaftliche Zusammenarbeit schuf. Es war dieselbe Zusammenarbeit wie vor dem Krieg. Nur entwickelten sich die Dinge noch schneller.

gfp.com: Warum hat Frankreich die europäische Integration gewählt?

Lacroix-Riz: Das Großkapital bestimmt das Schicksal Frankreichs wie das Schicksal aller europäischen Länder. Die Konzentration des Kapitals und der Anstieg der organischen Zusammensetzung des Kapitals, der sich aus ihr ergibt, haben den Fall der Profitrate zur Folge. Das Großkapital wird daher zu einem beständigen Krieg um die Löhne veranlasst, der schon sehr früh von den hohen Beamten vorhergesehen wurde: Diese kündigten bereits im Mai 1950 das "Sozial-Dumping" von heute an (um diesen Ausdruck zu benutzen), das heißt, die beständige Senkung der Löhne. Wir sind an dem Punkt angekommen, den sie damals vorhersahen - mit einer besonders gewalttätigen Senkung der "bezahlten Arbeit", dem einzigen Mittel, um den Profit zu halten bzw. (für das mächtigste Kapital) ihn zu steigern. Die Texte der Jahre 1950 bis 1955 liefern die präzise Beschreibung der europäischen Integration von heute und fegen die These von einer neuen "Abweichung", die das schöne Projekt eines "sozialen Europa" verpfuscht habe, hinweg. Das "soziale Europa" entspricht dem, was sie damals ankündigten, und wenn die Bevölkerungen nicht reagieren, dann wird das Programm triumphieren, das unlängst ein Konzernchef von Peugeot ausposaunt hat - er schrie hinaus, es gebe keine Grenze für die Senkung der Gestehungskosten...

gfp.com: Welche Rolle hat der Elysée-Vertrag in dieser Entwicklung gespielt?

Lacroix-Riz: Der Elysée-Vertrag ist vor allem eine politische oder ideologische Etappe in dieser europäischen Integration, wichtig für die Legende von der "Versöhnung", die unter anderem der Bevölkerung den Zugang zur wirklichen Geschichte der deutsch-französischen Beziehungen versperrt: Eines ihrer Nebenprodukte ist das "Europäische Geschichtsbuch", das die Geschichtswissenschaft geradezu misshandelt, dem aber die französischen Geschichtsbücher immer stärker ähneln. Die Propaganda, die 1963 folgte, hat es erlaubt, den Bevölkerungen Frankreichs und Deutschlands die Wirklichkeit und die Folgen zu verbergen, die die Wiederherstellung der deutschen Großmacht mit amerikanischer Unterstützung mit sich brachte, ganz wie nach dem Ersten Weltkrieg. Und dargestellt als dauerhafter Friede, verbindet sich der europäische Kapitalismus mit dem dauerhaften Krieg, in einer scheinbar idyllischen Allianz zwischen Europa und den Vereinigten Staaten. In Wirklichkeit bringt uns die Systemkrise, die seit annähernd 40 Jahren andauert, zur "generellen Krise des Imperialismus", die vor einem Jahrhundert in den Ersten Weltkrieg mündete (und der Krise ein Ende setzte, die 1873 offen ausgebrochen war). Die folgende Systemkrise mündete in den Zweiten Weltkrieg. Die Schärfe der gegenwärtigen Krisenphase bringt uns zu dieser Geschichte zurück. Man könnte Ihren Lesern dringend anraten, die Imperialismus-Schrift von Lenin aus dem Jahr 1917 zu lesen oder wiederzulesen, eine Lektüre, die günstig dafür ist, in der Wirklichkeit zu erwachen - ganz zu schweigen von der Kapitalanalyse von Marx...