Herr Präsident,

sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete,

vor einem Jahr stand ich hier und habe Ihnen gesagt, dass unsere Union in keinem guten Zustand ist –, dass es an Europa fehlt in dieser Union und an Union fehlt in dieser Union.

Ich werde mich heute nicht hinstellen und Ihnen sagen, dass nun alles in Ordnung ist.

Denn das ist es nicht.

Lassen Sie uns eine ganz ehrliche Diagnose stellen.

Unsere Europäische Union befindet sich – zumindest teilweise – in einer existenziellen Krise.

Im Laufe des Sommers habe ich aufmerksam zugehört, wenn mir die Abgeordneten dieses Parlaments, Regierungsvertreter, viele nationale Parlamentarier und europäische Bürgerinnen und Bürger erzählt haben, was ihnen auf dem Herzen liegt.

Ich habe mehrere Jahrzehnte europäischer Integration miterlebt. Es gab viele starke Momente. Und natürlich gab es auch schwierige Zeiten und Krisenzeiten.

Aber nie zuvor habe ich so wenige Gemeinsamkeiten zwischen unseren Mitgliedstaaten gesehen. So wenige Bereiche, bei denen sie sich darauf einigen können, zusammenzuarbeiten.

Nie zuvor habe ich so viele Spitzenpolitiker nur von ihren innenpolitischen Problemen reden hören, wobei Europa stets nur beiläufig erwähnt wurde – wenn überhaupt.

Nie zuvor habe ich erlebt, dass Vertreter der EU-Institutionen ganz andere Prioritäten setzen – manchmal sogar in direktem Widerspruch zu den nationalen Regierungen und den nationalen Parlamenten. Gerade so, als gäbe es kaum noch Schnittpunkte zwischen der EU und den Hauptstädten ihrer Mitgliedstaaten.

Nie zuvor habe ich nationale Regierungen derart von populistischen Kräften geschwächt und von drohenden Wahlniederlagen gelähmt gesehen.

Nie zuvor habe ich so viel Spaltung und so wenig Gemeinsinn in unserer Union gesehen.

Wir stehen nun vor einer sehr wichtigen Entscheidung.

Geben wir nun etwa dem ganz verständlichen Gefühl der Frustration nach? Verfallen wir allesamt in kollektive Depression? Wollen wir zusehen, wie sich unsere Union vor unseren Augen auflöst ?

Oder sagen wir: Ist das nicht der Moment, sich zusammenzureißen? Der Moment, die Ärmel hochzukrempeln und unsere Anstrengungen zu verdoppeln und zu verdreifachen? Ist das nicht der Moment, in dem Europa mehr denn je eine entschlossene politische Führung braucht – statt Politikern, die einfach das Schiff verlassen.

Unsere Betrachtungen zur Lage der Union müssen mit einem Sinn für Realität und großer Ehrlichkeit beginnen.

Zuerst einmal sollten wir zugeben, dass wir in Europa eine Menge ungelöster Probleme haben. Daran gibt es überhaupt keinen Zweifel.

Von hoher Arbeitslosigkeit und sozialer Ungleichheit über staatliche Schuldenberge und die ungeheure Herausforderung der Flüchtlingsintegration bis hin zu der sehr realen Bedrohung unserer Sicherheit im In- und Ausland – jeder einzelne EU-Mitgliedstaat ist von den anhaltenden Krisen unserer Zeit betroffen.

Wir stehen sogar vor der traurigen Aussicht, dass eines unserer Mitglieder unsere Reihen verlässt.

Zweitens sollten wir uns bewusst sein, dass die Welt auf uns blickt.

Ich bin gerade vom G20-Treffen in China zurückgekommen. Europa besetzt sieben Stühle am Tisch dieses wichtigen globalen Forums. Und doch gab es – trotz unserer großen Präsenz – mehr Fragen als wir gemeinsame europäische Antworten hatten.

Wird Europa also weiterhin in der Lage sein, Handelsvereinbarungen zu treffen und Wirtschafts-, Sozial- und Umweltstandards für die Welt zu gestalten?

Wird sich die europäische Wirtschaft endlich erholen oder für die nächsten zehn Jahre in geringem Wachstum und niedriger Inflation feststecken?

Wird Europa weiterhin weltweit führend sein, wenn es um den Kampf für die Menschenrechte und Grundwerte geht?

Wird Europa die Stimme erheben und mit einer Stimme sprechen, wenn territoriale Integrität bedroht – und Völkerrecht verletzt wird?

Oder wird Europa vom internationalen Parkett verschwinden und es anderen überlassen, die Welt zu gestalten?

Ich weiß, dass Sie hier in diesem Haus nur allzu bereit wären, klare Antworten auf diese Fragen zu geben. Aber wir müssen unseren Worten gemeinsame Taten folgen lassen. Sonst bleiben es nur: Worte. Und mit Worten allein können wir keinen Einfluss auf das Weltgeschehen nehmen.

Drittens sollten wir einsehen, dass wir nicht all unsere Probleme mit einer weiteren Rede lösen können. Oder mit einem weiteren Gipfel.

Denn dies sind nicht die Vereinigten Staaten von Amerika, wo der Präsident eine Rede zur Lage der Union vor beiden Kammern des Kongresses hält und Millionen von Bürgerinnen und Bürgern jedes Wort live im Fernsehen mitverfolgen.

Im Vergleich dazu zeigt unsere Rede zur Lage der Union hier in Europa sehr deutlich, wie unvollständig das Wesen unserer Union ist. Heute spreche ich vor dem Europäischen Parlament. Und am Freitag treffe ich gesondert in Bratislava mit den Staats- und Regierungschefs zusammen.

Also kann ich mit meiner Rede nicht lediglich Ihren Beifall suchen und außer Acht lassen, was die Staats- und Regierungschefs am Freitag sagen werden. Ich kann auch nicht in Bratislava mit einer anderen Botschaft erscheinen als heute vor Ihnen. Ich muss also berücksichtigen, dass unsere Union zwei Ebenen der Demokratie hat, die gleichermaßen wichtig sind.

Wir sind nicht die Vereinigten Staaten von Europa. Unsere Europäische Union ist viel komplexer. Und wenn wir diese Komplexität ignorieren, wäre dies ein Fehler, der uns zu falschen Lösungen führen würde.

Europa kann nur funktionieren, wenn Reden, die das gemeinsame Projekt unterstützen, nicht nur in diesem hohen Hause gehalten werden, sondern auch in den Parlamenten all unserer Mitgliedstaaten.

Europa kann nur funktionieren, wenn wir alle nach Einheit und Gemeinsamkeit streben und das Gerangel um Kompetenzen und die Rivalitäten zwischen Institutionen hinter uns lassen. Nur dann ist Europa mehr als die Summe seiner Teile. Und nur dann kann Europa besser und stärker werden, als es heute ist. Nur dann werden die Vertreter der EU-Institutionen und der nationalen Regierungen das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in unser gemeinsames Projekt zurückgewinnen.

Die Europäer sind unsere endlosen Streitereien, die Querelen und das Gezerre nämlich leid.

Die Europäer wollen konkrete Lösungen für die entscheidenden Probleme, vor denen unsere Union steht. Und sie wollen mehr als Versprechen, Entschließungen und Gipfel-Schlussfolgerungen. Davon haben sie schon genug gehört und gesehen.

Die Europäer wollen gemeinsame Entscheidungen, die anschließend auch rasch und wirksam umgesetzt werden.

Ja, wir brauchen eine langfristige Vision. Und die Kommission wird eine solche Zukunftsvision im März 2017 – rechtzeitig zum 60. Jahrestag der Römischen Verträge – in einem Weißbuch darlegen. Wir werden aufzeigen, wie wir unsere Wirtschafts- und Währungsunion stärken und reformieren können. Wir werden auch den politischen und demokratischen Herausforderungen Rechnung tragen, mit denen unsere Union der 27 in Zukunft konfrontiert sein wird. Und natürlich wird das Europäische Parlament, ebenso wie die nationalen Parlamente, eng in diesen Prozess eingebunden sein.

Eine Vision allein reicht aber nicht aus. Was unsere Bürgerinnen und Bürger viel mehr brauchen, ist, dass jemand lenkt und auf die Herausforderungen unserer Zeit reagiert.

Europa ist wie ein aus vielen Schnüren gedrehtes Seil – es hält nur, wenn alle – die EU-Organe, die nationalen Regierungen und die nationalen Parlamente – am selben Strang und in die gleiche Richtung ziehen. Wir müssen erneut zeigen, dass das in ausgewählten Bereichen, in denen gemeinsame Lösungen am dringendsten benötigt werden, möglich ist.

Deshalb schlage ich eine positive Agenda konkreter europäischer Maßnahmen für die nächsten zwölf Monate vor.

Denn ich glaube, dass die nächsten zwölf Monate entscheidend sind, wenn wir unsere Union wieder zusammenführen wollen. Wenn wir die tragische Spaltung, die in den vergangenen Monaten zwischen Ost und West eingetreten ist, überwinden möchten. Wenn wir zeigen wollen, dass wir in wirklich wichtigen Dingen schnell und entschlossen agieren können. Wenn wir der Welt beweisen wollen, dass Europa immer noch eine Kraft ist, die zu gemeinsamem Handeln fähig ist.

Wir müssen uns an die Arbeit machen.

Heute Morgen habe ich eine Erklärung mit dieser Botschaft an Präsident Schulz und an Premierminister Fico geschickt.

Die nächsten zwölf Monate werden entscheidend dafür sein, ein besseres Europa zu schaffen:

ein Europa, das beschützt,

ein Europa, das die europäische Lebensweise bewahrt,

ein Europa, das die Bürgerinnen und Bürger stärkt,

ein Europa, das sich nach innen wie außen verteidigt, und

ein Europa, das Verantwortung übernimmt.

EIN EUROPA, DAS UNSERE LEBENSWEISE BEWAHRT

Ich bin davon überzeugt, dass es sich lohnt, für die europäische Art zu leben, einzutreten.

Manchmal habe ich den Eindruck, dass viele vergessen zu haben scheinen, was es bedeutet, Europäer zu sein.

Was es bedeutet, Teil dieser Union von Europäerinnen und Europäern zu sein – was den Landwirt in Litauen mit der alleinerziehenden Mutter in Zagreb, der Krankenschwester in Malta oder dem Student in Maastricht verbindet.

Wir müssen uns daran erinnern, warum die europäischen Nationen beschlossen haben, zusammenzuarbeiten.

Wir müssen uns daran erinnern, warum eine Menschenmenge am 1. Mai 2004 in den Straßen Warschaus Solidarität gefeiert hat.

Wir müssen uns daran erinnern, warum die europäische Flagge am 1. Januar 1986 stolz auf der Puerta del Sol wehte.

Wir müssen uns daran erinnern, dass Europa eine treibende Kraft ist, die zur Wiedervereinigung Zyperns beitragen kann – ein Ziel, bei dem ich die beiden politisch Verantwortlichen Zyperns unterstütze.

Europa bedeutet vor allem Frieden. Es ist kein Zufall, dass die längste Friedensperiode in der europäischen Geschichte begonnen hat, als die Europäischen Gemeinschaften gegründet wurden.

Ein Frieden, der jetzt bereits 70 Jahre anhält – und das in einer Welt, in der rings um uns herum 40 bewaffnete Konflikte herrschen, die jedes Jahr 170 000 Menschenleben fordern.

Natürlich haben wir unsere Meinungsverschiedenheiten. Ja, wir haben sogar oft unterschiedliche Auffassungen. Manchmal streiten wir. Aber wir streiten mit Worten. Und wir lösen unsere Konflikte am Verhandlungstisch, nicht in Schützengräben.

Ein wesentlicher Bestandteil unserer europäischen Art zu leben, sind unsere Werte:

Freiheit, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit. Werte, für die wir jahrhundertelang mit Worten und Waffen gekämpft haben.

Wir Europäer werden es niemals hinnehmen, dass polnische Arbeiter auf den Straßen von Harlow oder andernorts belästigt, angegriffen oder gar ermordet werden. Die Freizügigkeit der Arbeitnehmer ist ebenso ein gemeinsamer europäischer Wert wie unser Kampf gegen Diskriminierung und Rassismus.

Wir Europäer sagen ein klares „Nein“ zur Todesstrafe. Denn wir glauben an den Wert des menschlichen Lebens und achten es.

Wir Europäer glauben auch an eine unabhängige, funktionierende Justiz.Unabhängige Gerichte, die gegenüber dem Staat, der Wirtschaft und den Bürgerinnen und Bürgern die Rechtsordnung wahren. Funktionierende Rechtssysteme, die das Wirtschaftswachstum fördern und Grundrechte verteidigen. Genau deshalb tritt Europa für Rechtsstaatlichkeit ein und verteidigt sie.

Europäer sein heißt auch, dass wir offen sind und mit unseren Nachbarn handeln statt mit ihnen Krieg zu führen. Gemeinsam sind wir der größte Handelsblock der Welt. Wir haben mit mehr als 140 Partnern rund um den Globus Handelsabkommen geschlossen oder sind dabei, sie auszuhandeln.

Und Handel bedeutet Arbeitsplätze – mit jeder im Export eingenommenen Milliarde Euro entstehen 14 000 neue Jobs in der EU. Mehr als 30 Millionen Arbeitsplätze, das heißt jeder siebte Arbeitsplatz in der EU, hängt inzwischen von Exporten in Drittländer ab.

Deshalb arbeitet Europa mit Kanada an einer Öffnung unserer Märkte. Kanada ist einer unserer engsten Partner, der unsere Interessen, unsere Werte, unser Eintreten für Rechtsstaatlichkeit und unsere Vorstellungen von kultureller Vielfalt teilt. Das Handelsabkommen zwischen der EU und Kanada ist das beste und fortschrittlichste Abkommen, das die EU je ausgehandelt hat. Ich werde gemeinsam mit Ihnen und mit allen Mitgliedstaaten darauf hinwirken, dass dieses Abkommen so bald wie möglich ratifiziert wird.

Europäer sein heißt, ein Anrecht darauf zu haben, dass die eigenen personenbezogenen Daten durch strenge europäische Gesetze geschützt werden. Denn Europäer möchten keine Drohnen, die über ihre Köpfe kreisen und jede ihrer Bewegungen aufzeichnen. Europäer möchten auch keine Unternehmen, die alle ihre Mausklicks speichern. Deshalb haben Parlament, Rat und Kommission im Mai dieses Jahres eine gemeinsame europäische Datenschutzgrundverordnung verabschiedet: ein strenges europäisches Gesetz, das für alle Unternehmen gilt – wo immer sie ihren Sitz haben und wann immer Daten verarbeitet werden. Denn in Europa spielt der Schutz der Privatsphäre eine Rolle. Das ist eine Frage der Menschenwürde.

Europäer sein heißt auch darauf vertrauen dürfen, dass einheitliche Rahmenbedingungen für alle gelten.

Das bedeutet, dass Arbeitnehmer für gleiche Arbeit am gleichen Ort auch den gleichen Lohn erhalten sollten. Das ist eine Frage der sozialen Gerechtigkeit. Deshalb stehen wir als Kommission hinter unserem Vorschlag für die Entsenderichtlinie. Der Binnenmarkt ist kein Ort, an dem osteuropäische Arbeitnehmer ausgebeutet werden oder für sie geringere Sozialstandards gelten dürfen. Europa ist nicht der Wilde Westen, sondern eine soziale Marktwirtschaft.

Zu den einheitlichen Rahmenbedingungen gehört ebenso, dass Verbraucher in Europa vor Kartellen und Marktmissbrauch durch mächtige Unternehmen geschützt werden. Und dass alle Unternehmen – egal wie groß oder klein sie sind – dort Steuern zahlen, wo sie ihre Gewinne erwirtschaften. Das gilt auch für Wirtschaftsgiganten wie Apple, selbst wenn ihr Börsenwert höher ist als das BIP von 165 Staaten weltweit. In Europa nehmen wir es nicht hin, dass mächtige Unternehmen in Hinterzimmern illegale Steuerdeals aushandeln.

Dabei geht es uns gar nicht darum, in welcher Höhe ein Land wie Irland seine Steuern festsetzt. Irland hat das souveräne Recht, seine Steuersätze nach eigenem Belieben festzulegen Aber es ist nicht richtig, dass ein Unternehmen Steuern umgehen kann, die irischen Familien, Unternehmen, Krankenhäusern und Schulen hätten zugutekommen können. Die Kommission achtet auf diese Steuerfairness. Das ist die soziale Seite des Wettbewerbsrechts. Und genau dafür steht Europa.

Wir Europäer stehen ferner für eine politische und gesellschaftliche Kultur, die unsere Arbeitnehmer und unsere Unternehmen in einer zunehmend globalisierten Welt schützt. So wie die vielen Tausend Arbeitnehmer, denen im belgischen Gosselies der Verlust ihres Arbeitsplatzes droht. Dank der EU-Gesetzgebung muss der Arbeitgeber jetzt in einen echten sozialen Dialog eintreten. Die Arbeitnehmer und die Behörden vor Ort können dabei auf die europäische Solidarität und Hilfe aus den EU-Fonds zählen.

Europäer sein heißt auch, für unsere Stahlindustrie einzutreten. Wir haben bereits 37 Antidumping- und Antisubventionsmaßnahmen in Kraft gesetzt, um unsere Stahlindustrie vor unfairem Wettbewerb zu schützen. Doch wir müssen mehr tun, wenn die Überproduktion in einigen Teilen der Welt europäische Stahlerzeuger vom Markt verdrängt. Deshalb habe ich das Thema der Überkapazitäten in diesem Jahr bereits zweimal bei Besuchen in China angesprochen. Deshalb hat die Kommission auch vorgeschlagen, die „Regel des niedrigeren Zolls“ zu ändern. Die Vereinigten Staaten erheben für Stahleinfuhren aus China einen Zoll von 265%, aber hier in Europa haben einige Regierungen jahrelang darauf gedrungen, die Zölle für chinesischen Stahl zu senken. Ich rufe alle Mitgliedstaaten und dieses Parlament dazu auf, die Kommission dabei zu unterstützen, wenn es darum geht, unsere handelspolitischen Schutzinstrumente zu stärken. Wir sollten keine naiven Freihändler sein, aber wir sollten in der Lage sein, genauso kraftvoll zu reagieren wie die Vereinigten Staaten.

Ein wichtiger Bestandteil unserer europäischen Art zu leben, die ich bewahren möchte, ist unser Landwirtschaftssektor. Die Kommission wird unseren Landwirten immer zur Seite stehen, insbesondere wenn sie wie jetzt durch schwierige Zeiten gehen. Im vergangenen Jahr wurde die Milchwirtschaft von einem Embargo getroffen, das von Russland verhängt wurde. Deshalb hat die Kommission 1 Mrd. EUR mobilisiert, um den Milchbauern zu helfen, wieder auf die Beine zu kommen. Für mich ist es nicht akzeptabel, dass Milch billiger ist als Wasser.

Für die meisten von uns gehört auch der Euro zum Europäisch sein dazu. In der weltweiten Finanzkrise ist unsere Gemeinschaftswährung stark geblieben, sie hat uns vor noch mehr Instabilität bewahrt. Der Euro ist eine führende Weltwährung, die große, oft unsichtbare wirtschaftliche Vorteile birgt. Die Staaten des Euroraums haben alleine dieses Jahr 50 Mrd. EUR an Zinsen gespart, dank der Geldpolitik der Europäischen Zentralbank. 50 Milliarden zusätzlich, die unsere Finanzminister in die Wirtschaft investieren können und sollten.

Mario Draghi wahrt die Stabilität unserer Währung. Und er tut mehr für Arbeitsplätze und Wachstum als viele unserer Mitgliedstaaten.

Ja, wir Europäer haben unter einer historischen Finanz- und Schuldenkrise gelitten. Aber zur Wahrheit gehört auch: Während die staatlichen Haushaltsdefizite im Euro-Raum 2009 noch durchschnittlich 6,3% betrugen, liegen sie heute unter 2%.

In den vergangenen drei Jahren haben fast 8 Millionen Menschen einen neuen Arbeitsplatz gefunden. Darunter allein mehr als 1 Million in Spanien – einem Land, das sich übrigens weiterhin in beeindruckender Weise von der Krise erholt.

Ich wünschte, an all das würde häufiger erinnert, wo immer gewählte Politiker in Europa das Wort ergreifen.

Denn in unserer nicht vollständigen Union kann europäische Führung nicht nationale Führung ersetzen.

Es ist also an den europäischen Nationen, die Gründe unserer europäischen Einheit zu verteidigen. Niemand kann das statt ihrer tun.

Nur sie können das.

Wir können vereint sein – auch wenn wir vielfältig sind.

Die großen, demokratischen Nationen Europas dürfen sich nicht vom Populismus verführen lassen.

Europa darf sich im Angesicht des Terrors nicht wegducken.

Die Mitgliedstaaten müssen ein Europa bauen, das beschützt. Und wir, die europäischen Institutionen, müssen ihnen dabei helfen, dieses Versprechen zu erfüllen.

EIN EUROPA, DAS STÄRKER MACHT

Die Europäische Union sollte nicht nur die europäische Art zu leben bewahren, sondern auch diejenigen bestärken, die sie leben.

Wir müssen für ein Europa arbeiten, dass unseren Bürgerinnen und Bürgern und unserer Wirtschaft Chancen eröffnet – und diese liegen heute im Digitalen.

Digitale Technologien und digitale Kommunikation durchdringen heute unser gesamtes Leben.

Alles, was dafür nötig ist, ist ein Hochgeschwindigkeits-Internetanschluss. Wir müssen vernetzt sein. Unsere Wirtschaft ist darauf angewiesen und die Bürgerinnen und Bürger sind es auch.

Deshalb müssen wir jetzt in diese Vernetzung investieren.

Aus diesem Grund schlägt die Kommission heute eine Reform der europäischen Telekommunikationsmärkte vor. Wir wollen einen neuen Rechtsrahmen schaffen, der Investitionen in Netze und Anschlüsse möglich und attraktiv macht.

Unternehmen sollten ihre Investitionen in Europa für die nächsten 20 Jahre planen können. Denn wenn wir in neue Netze und Dienstleistungen investieren, dann bedeutet das mindestens 1,3 Millionen neue Arbeitsplätze im nächsten Jahrzehnt.

Alle sollten vom Netzausbau profitieren.

Daher schlägt die Kommission heute vor, die Mobilfunktechnik der 5. Generation (5G) bis 2025 in ganz Europa auszurollen. Dadurch könnten weitere zwei Millionen neue Arbeitsplätze in der EU entstehen.

Wenn der Netzausbau allen zugutekommen soll, heißt das auch, dass es keine Rolle spielen darf, wo man lebt oder wie viel man verdient.

Wir schlagen deshalb heute vor, bis 2020 die wichtigsten öffentlichen Orten jedes europäischen Dorfes und jeder europäischen Stadt mit kostenlosem WLAN-Internetzugang auszustatten.

Wenn die Welt digital wird, müssen wir auch unsere Künstler und Kulturschaffenden fördern und ihre Werke schützen. Künstler und Kulturschaffende sind unsere Kronjuwelen. Die Schöpfung von Inhalten ist kein Hobby, sondern ein Beruf. Und sie ist Teil unserer europäischen Kultur.

Ich möchte, dass Journalisten, Verlage und Urheber eine faire Vergütung für ihre Arbeit erhalten. Dabei darf es keine Rolle spielen, ob ein Werk im Studio oder im Wohnzimmer entstanden ist, ob es offline oder online verbreitet wird, ob es über einen Drucker vervielfältigt oder ins Netz gestellt wird.

Unser heutiger Vorschlag für ein überarbeitetes europäisches Urheberrecht geht genau in diese Richtung.

Die Stärkung unserer Wirtschaft bedeutet nicht nur, in die Netzanbindung zu investieren, sondern auch in die Schaffung von Arbeitsplätzen.

Deswegen braucht Europa massive Investitionen in seine jungen Menschen, in seine Arbeitsuchenden, in seine Start-up-Unternehmen.

Die 315 Mrd. EUR Investitionsoffensive für Europa, die wir vor gerade einmal zwölf Monaten in diesem Haus auf den Weg gebracht haben, hat im ersten Jahr ihres Bestehens bereits Investitionen in Höhe von 116 Mrd. EUR mobilisiert – von Lettland bis Luxemburg.

Mehr als 200 000 kleine Unternehmen und Start-up-Firmen in ganz Europa haben Darlehen erhalten. Über 100 000 neue Arbeitsplätze wurden geschaffen. Dank des neuen Europäischen Fonds für strategische Investitionen, den ich vorgeschlagen habe, den meine Kommission entwickelt hat und den Sie hier im Europäischen Parlament unterstützt und in Rekordzeit angenommen haben.

Und jetzt wollen wir noch einen Schritt weiter gehen. Wir schlagen heute vor, die Laufzeit des Fonds und seine Finanzierungskapazität zu verdoppeln.

Mit Ihrer Unterstützung werden wir dafür sorgen, dass unser Europäischer Investitionsfonds bis 2020 Investitionen von insgesamt mindestens 500 Mrd. EUR – einer halben Billion – mobilisieren wird. Und bis 2022 wollen wir sogar 630 Mrd. EUR erreichen. Wenn die Mitgliedstaaten mitziehen, können wir dieses Ziel natürlich noch schneller erreichen.

Parallel zur Mobilisierung privater Investitionen müssen wir auch ein günstiges Investitionsumfeld schaffen.

Europäischen Banken geht es heute viel besser als noch vor zwei Jahren – dank unserer gemeinsamen Bemühungen. Europa braucht seine Banken. Aber eine Wirtschaft, die sich fast ausschließlich auf Bankkredite stützt, ist schlecht für die Finanzstabilität. Sie ist auch schlecht für Unternehmen. Das haben wir in der Finanzkrise deutlich gesehen. Deswegen müssen wir dringend unsere Arbeit an der Kapitalmarktunion beschleunigen. Die Kommission legt Ihnen dazu heute einen konkreten Fahrplan vor.

Eine Kapitalmarktunion wird unser Finanzsystem widerstandsfähiger machen. Sie wird Unternehmen einen leichteren und diversifizierten Zugang zu Finanzmitteln bieten. Stellen Sie sich ein finnisches Start-up-Unternehmen vor, das kein Darlehen von der Bank bekommt. Bislang hat das Unternehmen in dieser Situation wenige Optionen. Die Kapitalmarktunion wird wichtige alternative Finanzierungsquellen wie Business Angels, Risikokapital und marktbasierte Finanzierung bieten, um Start-ups ihren Start zu erleichtern.

Um nur ein Beispiel zu nennen: Vor fast einem Jahr haben wir einen Vorschlag gemacht, der es Banken erleichtert, Darlehen zu geben. Er hat das Potenzial, zusätzliche Finanzmittel von bis zu 100 Mrd. EUR für Unternehmen in der EU zu mobilisieren. Deswegen bitte ich Sie: Beschleunigen Sie das Verfahren zu seiner Annahme.

Unsere Investitionsoffensive hat in Europa alle Erwartungen übertroffen. Jetzt geben wir ihr eine globale Dimension. Damit entsprechen wir dem Wunsch vieler Mitglieder dieses Hauses und vieler Mitgliedstaaten.

Wir legen heute eine ehrgeizige Investitionsoffensive für Afrika und die EU-Nachbarschaft vor mit einem Investitionspotenzial von 44 Mrd. EUR. Wenn die Mitgliedstaaten mitmachen, können wir bis zu 88 Mrd. EUR erreichen.

Der Plan funktioniert nach dem gleichen Prinzip wie die europäische Investitionsoffensive: Wir werden öffentliche Mittel als Garantie einsetzen, um öffentliche und private Investitionen zu gewinnen, die Arbeitsplätze schaffen.

Die Offensive ist als Ergänzung zu unserer Entwicklungshilfe gedacht und setzt bei einer der Hauptursachen der Migration an. Das Wirtschaftswachstum in den Entwicklungsländern ist auf dem niedrigsten Stand seit 2003. Deswegen ist unser neuer Plan von so großer Bedeutung. Er wird Menschen Alternativen bieten, die sich andernfalls gezwungen sähen, auf der Suche nach einem besseren Leben den Tod zu riskieren.

Bei allen Investitionen in die Verbesserung der Lebensbedingungen in anderen Ländern müssen wir in die Bekämpfung humanitärer Krisen bei uns zuhause investieren. Das Allerwichtigste daran sind Investitionen in unsere jungen Menschen.

Ich kann und werde nicht akzeptieren, dass Europa der Kontinent der Jugendarbeitslosigkeit ist und bleibt.

Ich kann und werde nicht akzeptieren, dass die Millennium-Generation, die Generation Y, möglicherweise die erste Generation seit 70 Jahren ist, der es schlechter geht als ihren Eltern.

Dies ist natürlich in erster Linie Aufgabe der nationalen Regierungen. Aber die Europäische Union kann sie unterstützen. Das tun wir beispielsweise durch die EU-Jugendgarantie, die vor drei Jahren ins Leben gerufen wurde. Meine Kommission hat die Wirksamkeit der Jugendgarantie verbessert und für eine rasche Umsetzung gesorgt. Mehr als neun Millionen junger Menschenhaben bereits von dem Programm profitiert.. Das sind neun Millionen junge Menschen, die dank der EU einen Arbeitsplatz, ein Praktikum oder eine Ausbildungsstelle erhalten haben. Wir werden die europäische Jugendgarantie auch weiter verbreiten, um die Kompetenzen der Europäerinnen und Europäer zu verbessern, und uns dabei auf die Regionen und Jugendlichen konzentrieren, die am dringendsten Unterstützung benötigen.

Wir unterstützen die jungen Europäer auch mit den Erasmus-Programmen, von denen schon 5 Millionen Studenten profitiert haben. So können junge Menschen sich in der EU über Grenzen hinweg bewegen, reisen, arbeiten, studieren und sich ausbilden. Durchschnittlich bekommt einer von drei Erasmus-Studenten am Ende sogar von den Unternehmen, in denen er oder sie trainiert wurde, einen Job angeboten.

Und wir können noch mehr tun. Denn es gibt viele junge und sozial denkende Menschen in Europe, die sich in der Gesellschaft einbringen und Solidarität zeigen wollen – und wir können für sie die Möglichkeiten schaffen, dies zu tun.

Die Solidarität ist der Kitt, der unsere Union zusammenhält.

Sechzehn Mal kommt der Begriff „Solidarität“ in den Verträgen vor, die alle Mitgliedstaaten vereinbart und ratifiziert haben.

Unser europäischer Haushalt ist Beweis für die finanzielle Solidarität.

Beeindruckende Solidarität zeigen die Europäer bei der Durchsetzung gemeinsamer europäischer Sanktionen, wenn Russland gegen das Völkerrecht verstößt.

Der Euro ist ein Ausdruck der Solidarität.

Unsere Entwicklungspolitik sendet ein deutliches Zeichen der Solidarität nach außen.

Und auch in der Flüchtlingskrise haben wir Ansätze von Solidarität beobachten können. Ich bin überzeugt, wir brauchen noch sehr viel mehr Solidarität. Aber ich weiß auch, dass das nur freiwillig geht. Solidarität muss von Herzen kommen. Sie kann nicht erzwungen werden.

Oft sind wir am ehesten im Angesicht einer Notsituation zur Solidarität bereit.

Als die portugiesischen Wälder brannten, löschten italienische Flugzeuge die Flammen.

Als Überschwemmungen in Rumänien die Stromversorgung unterbrachen, sorgten schwedische Generatoren für Licht.

Als Tausende Flüchtlinge an den griechischen Küsten landeten, fanden sie Schutz in slowakischen Zelten.

In diesem Geiste schlägt die Kommission heute die Einrichtung eines Europäischen Solidaritätskorps vor. Junge Menschen aus der ganzen EU sollen als Freiwillige in Krisensituationen, wie beispielsweise der Flüchtlingskrise oder nach den jüngsten Erdbeben in Italien, dort Hilfe leisten können, wo sie am dringendsten gebraucht wird.

Ich möchte, dass dieses Europäische Solidaritätskorps bis spätestens Ende des Jahres steht. Und bis 2020 sollen die ersten 100 000 jungen Europäerinnen und Europäer daran teilnehmen.

Durch ihr freiwilliges Engagement im Europäischen Solidaritätskorps werden diese jungen Menschen neue Kompetenzen erwerben und nicht nur Arbeitserfahrung, sondern auch wertvolle Lebenserfahrung sammeln.

EIN EUROPA, DAS VERTEIDIGT

Ein Europa, das beschützt, ist ein Europa, das sich und uns verteidigt – zu Hause und nach außen.

Wir müssen uns gegen den Terrorismus verteidigen.

Seit den Bombenanschlägen von Madrid im Jahr 2004 hat es in Europa mehr als 30 Terroranschläge gegeben – 14 davon allein im letzten Jahr. Über 600 unschuldige Menschen starben in Städten wie Paris, Brüssel, Nizza oder Ansbach.

Gemeinsam haben wir getrauert – gemeinsam müssen wir nun handeln.

Die barbarischen Verbrechen des letzten Jahres haben uns wieder einmal gezeigt, wofür wir kämpfen: die europäische Art zu leben. Im Angesicht des Schlimmsten, was die Menschheit hervorbringt, müssen wir unseren Werten und uns selbst treu bleiben. Wir, das sind demokratische, pluralistische, offene und tolerante Gesellschaften.

Der Preis für diese Toleranz darf jedoch nicht unsere Sicherheit sein.

Deswegen hat die Sicherheit für meine Kommission seit ihrem Amtsantritt oberste Priorität – wir haben Terrorismus und ausländische Kämpfer EU-weit unter Strafe gestellt und sind gegen die Verwendung von Schusswaffen und Terrorismusfinanzierung vorgegangen; wir haben mit Internetfirmen zusammengearbeitet, um terroristische Propaganda aus dem Internet zu löschen, und die Radikalisierung in europäischen Schulen und Gefängnissen bekämpft.

Aber es gibt noch viel zu tun.

Wir müssen wissen, wer über unsere Grenzen kommt.

Deswegen werden wir unsere Grenzen mit der neuen Europäischen Grenz- und Küstenwache schützen, die derzeit von Parlament und Rat formalisiert wird – nur neun Monate, nachdem die Kommission den entsprechenden Vorschlag vorgelegt hat. Über 600 Frontex-Bedienstete sind an der türkischen Grenze in Griechenland im Einsatz, mehr als 100 in Bulgarien. Jetzt sollten die EU-Institutionen und die Mitgliedstaaten eng zusammenarbeiten, um die neue Agentur so rasch wie möglich aufzubauen. Ich möchte, dass ab Oktober mindestens 200 zusätzliche Grenzschutzbeamte und 50 zusätzliche Fahrzeuge an der bulgarischen Außengrenze im Einsatz sind.

Schützen werden wir unsere Grenzen außerdem durch die strenge Kontrolle der Grenzübertritte. Die Vorschriften hierzu sollen bis Ende des Jahres verabschiedet werden. Jedes Mal, wenn eine Person in die EU einreist oder sie verlässt, werden Zeitpunkt, Ort und Grund der Reise aufgezeichnet.

Bis November werden wir den Vorschlag für ein Europäisches Reiseinformationssystem vorlegen, ein automatisiertes System zur Erteilung von Einreisegenehmigungen in die EU. So werden wir wissen, wer nach Europa reist, noch bevor er oder sie ankommt.

Und wir alle brauchen diese Informationen. Wie oft haben wir in den letzten Monaten gehört, dass bestimmte Informationen in einer Datenbank eines Landes vorhanden waren, die Behörden eines anderen Landes, die sie hätten gebrauchen können, jedoch nie darauf zugreifen konnten?

Sicherheit an den Grenzen bedeutet auch, dass der Austausch von Informationen und nachrichtendienstlichen Erkenntnissen prioritär behandelt wird. Dazu werden wir Europol – die europäische Agentur zur Unterstützung der nationalen Strafverfolgungsbehörden – stärken, indem wir ihr einen besseren Zugang zu Datenbanken und zusätzliche Ressourcen geben. Eine Antiterrorismus-Einheit von derzeit 60 Personen ist nicht in der Lage, die rund um die Uhr benötigte Unterstützung zu bieten.

Ein Europa, das beschützt, verteidigt seine Interessen auch über seine Grenzen hinweg.

Die Faktenlage ist simpel: Die Welt wächst. Und wir schrumpfen.

Heute machen wir Europäer 8% der Weltbevölkerung aus – 2050 werden es nur noch 5% sein. Bis dahin werden Sie unter den führenden Wirtschaftsnationen der Welt kein einziges EU-Land mehr finden. Aber die EU gemeinsam? Wir wären immer noch einer der Spitzenreiter.

Unsere Feinde sähen es gern, wenn wir zerfielen.

Unsere Konkurrenten würden von unserer Spaltung profitieren.

Nur gemeinsam sind und bleiben wir eine Kraft, mit der man rechnen muss.

Doch selbst wenn Europa stolz darauf ist, eine weltgewichtige Soft Power zu sein, dürfen wir nicht naiv sein. Mit zunehmenden Gefahren um uns herum reicht Soft Power allein nicht mehr aus.

Denken Sie an den blutigen Konflikt um Syrien. Seine Folgen treffen Europa unmittelbar. In IS-Lagern ausgebildete Terroristen verüben Anschläge in unseren Städten. Doch wo ist die Union, wo sind ihre Mitgliedstaaten, wenn über eine Lösung verhandelt wird?

Federica Mogherini, unsere Hohe Vertreterin und meine Vizepräsidentin, leistet hervorragende Arbeit. Aber sie muss unsere Europäische Außenministerin werden, mit deren Hilfe alle nationalen Minister der kleinen wie großen Länder ihre Kräfte bündeln, um in internationalen Verhandlungen mehr Einfluss zu erlangen. Deswegen fordere ich heute eine Europäische Strategie für Syrien. Federica gehört mit an den Verhandlungstisch, wenn über die Zukunft Syriens geredet wird. Damit Europa helfen kann, Syrien als friedliche Nation mit einer pluralistischen, toleranten Zivilgesellschaft wiederaufzubauen.

Europa muss mehr Härte zeigen. Dies gilt vor allem in unserer Verteidigungspolitik.

Europa kann es sich nicht mehr leisten, militärisch im Windschatten anderer Mächte zu segeln oder Frankreich in Mali allein zu lassen.

Wir müssen die Verantwortung dafür übernehmen, unsere Interessen und die europäische Art zu leben zu verteidigen.

In den letzten zehn Jahren haben wir uns in über 30 zivilen und militärischen EU-Missionen von Afrika bis Afghanistan engagiert. Doch ohne dauerhafte Struktur können wir nicht wirksam agieren. Dringende Operationen verzögern sich. Wir haben getrennte Hauptquartiere für parallele Einsätze, selbst wenn sie im selben Land oder in derselben Stadt stattfinden. Es ist an der Zeit, dass wir für diese Operationen ein gemeinsames Hauptquartier einrichten.

Außerdem sollten wir uns auf gemeinsame militärische Mittel hinbewegen, die in einigen Fällen auch der EU gehören sollten. Selbstverständlich in uneingeschränkter Komplementarität mit der NATO.

Rein wirtschaftlich ist die Sache klar. Die fehlende Zusammenarbeit in Verteidigungsfragen kostet Europa alljährlich 25 Mrd. EUR. 25 Mrd. EUR, die wir so viel besser einsetzen könnten.

Machbar ist es. Eine multinationale Lufttankerflotte bauen wir bereits auf. Lassen Sie es uns in anderen Bereichen genauso machen.

Eine starke europäische Verteidigung braucht eine innovative europäische Rüstungsindustrie. Deshalb werden wir noch vor Jahresende einen Europäischen Verteidigungsfonds vorschlagen, der unserer Forschung und Innovation einen kräftigen Schub verleiht.

Der Vertrag von Lissabon gibt den Mitgliedstaaten die Möglichkeit, ihre Verteidigungsfähigkeiten in Form einer ständigen strukturierten Zusammenarbeit zu bündeln, so sie dies wollen. Ich denke, jetzt ist der richtige Zeitpunkt, diese Möglichkeit zu nutzen. Und ich hoffe, dass wir bei unserem Treffen zu 27. in wenigen Tagen in Bratislava den ersten politischen Schritt in diese Richtung tun können.

Denn nur wenn Europa zusammenarbeitet, wird es in der Lage sein, sich nach innen wie nach außen zu verteidigen.

EIN EUROPA, DAS VERANTWORTUNG ÜBERNIMMT

Bevor ich zum Schluss komme, möchte ich über Verantwortung sprechen. Über die Verantwortung für den Aufbau eines Europas, das seine Bürger beschützt.

Ich rufe alle EU-Institutionen und all unsere Mitgliedstaaten auf, Verantwortung zu übernehmen.

Die alte Leier, dass Erfolg national und Misserfolg europäisch ist, muss ein Ende haben. Sonst wird unser gemeinsames Projekt nicht überleben.

Wir müssen uns den Sinn und Zweck unserer Union wieder vergegenwärtigen. Deshalb rufe ich jeden Einzelnen der 27 Staats- und Regierungschefs, die den Weg nach Bratislava antreten, auf, sich drei Gründe zu überlegen, warum wir die Europäische Union brauchen.Drei Dinge, die sie bereit sind zu verteidigen und dafür auch die Verantwortung zu übernehmen. Und für die sie dann auch rasch Taten folgen lassen.

Die Langsamkeit, mit der Versprechen eingelöst werden, droht die Glaubwürdigkeit der Union mehr und mehr zu untergraben. Denken Sie an das Übereinkommen von Paris. Wir Europäer sind Weltführer beim Klimaschutz. Das erste rechtsverbindliche globale Klimaschutzabkommen wurde von Europa vermittelt. Die Koalition der Ambitionierten, die die Einigung in Paris erst ermöglicht hat, wurde von Europa geschmiedet. Doch gegenwärtig hat Europa Mühe, seine Vorreiterrolle zu behaupten und unter den ersten zu sein, die unser Übereinkommen ratifizieren. Bisher haben nur Frankreich, Österreich und Ungarn das Abkommen ratifiziert.

Ich fordere alle Mitgliedstaaten und dieses Parlament auf, das ihre zu tun, und zwar in den nächsten Wochen, nicht in den nächsten Monaten. Wir müssen schneller werden. Lassen Sie uns das Pariser Übereinkommen ratifizieren – jetzt. Machbar ist es. Es ist eine Frage des politischen Willens. Und es geht dabei um den Einfluss Europas in der Welt.

Auch die Europäischen Institutionen müssen Verantwortung übernehmen.

Ich habe jedes einzelne Mitglied meiner Kommission gebeten, in den nächsten beiden Wochen in den nationalen Parlamenten der Länder, die sie am besten kennen, über die Lage der Union zu diskutieren. Seit Beginn meiner Amtszeit haben meine Kommissionsmitglieder den nationalen Parlamenten über 350 Besuche abgestattet. Ich möchte, dass sie dies in Zukunft noch häufiger tun. Denn Europa kann nur mit den Mitgliedstaaten aufgebaut werden, niemals gegen sie.

Verantwortung übernehmen heißt auch anerkennen, dass manches nicht von uns zu entscheiden ist. Es geht nicht an, dass die Kommission von Parlament und Rat zu einer Entscheidung gezwungen wird, wenn sich die EU-Länder untereinander nicht einigen können, ob sie die Verwendung von Glyphosat in Pflanzenschutzmitteln verbieten wollen oder nicht.

Daher werden wir diese Regeln ändern – denn das ist keine Demokratie.

Die Kommission muss Verantwortung übernehmen, indem sie politisch ist, nicht technokratisch.

Eine politische Kommission ist eine Kommission, die dem Europäischen Parlament zuhört, die allen Mitgliedstaaten zuhört und die den Menschen zuhört.

Dieses Zuhören hat meine Kommission veranlasst, in den ersten beiden Jahren ihrer Amtszeit 100 Vorschläge zurückzuziehen, 80 % weniger Initiativen vorzulegen als in den vergangenen 5 Jahren und alle bestehenden Rechtsvorschriften einer gründlichen Überprüfung zu unterziehen. Denn nur wenn wir uns auf die Bereiche konzentrieren, in denen Europa einen echten Mehrwert erbringen und etwas bewirken kann, wird es uns gelingen, ein besseres Europa zu schaffen und Vertrauen zurückgewinnen.

Politisch zu sein heißt auch, technokratische Fehler sofort zu bereinigen. Die Kommission, das Parlament und der Rat haben gemeinsam beschlossen, die Roaming-Gebühren abzuschaffen. Dieses Versprechen werden wir halten. Nicht nur für Geschäftsleute, die zwei Tage ins Ausland reisen. Nicht nur für Urlauber, die zwei Wochen in der Sonne verbringen. Sondern für alle Grenzgänger. Und für die Millionen von Erasmus-Studenten, die ein oder zwei Semester im Ausland verbringen. Deshalb habe ich einen Entwurf, den ein wohlmeinender Beamter über den Sommer formuliert hatte, zurückgezogen. Technisch war daran nichts auszusetzen. Doch der wesentliche Punkt unseres Versprechens war darin nicht enthalten. Und so werden Sie nächste Woche nun einen neuen, besseren Entwurf zu Gesicht bekommen. Roaming sollte sein wie zu Hause sein.

Politisch zu sein, erlaubt es uns auch, den Stabilitäts- und Wachstumspakt mit gesundem Menschenverstand anzuwenden. Die Schaffung des Pakts war von Theorie bestimmt. Seine Anwendung ist für viele zur Doktrin geworden. Für einige ist der Pakt heute ein Dogma. Theoretisch müsste ein Land bestraft werden, wenn sein Schuldenstand auch nur um einen Punkt hinter dem Komma über 60 Prozent liegt. Aber in der Realität müssen wir darauf blicken, welche Gründe hinter der Verschuldung liegen. Wir sollten versuchen, laufende Reformanstrengungen zu unterstützen und nicht zu bestrafen. Dafür brauchen wir verantwortungsvolle Politiker. Und wir werden den Pakt auch weiterhin nicht dogmatisch, sondern mit gesundem Menschenverstand und der Flexibilität umsetzen, die wir wohlweislich in das Regelwerk eingebaut haben.

Verantwortung zu übernehmen bedeutet schließlich auch, dass wir uns gegenüber den Wählerinnen und Wählern zu verantworten haben. Deshalb werden wir vorschlagen, die absurde Regelung zu ändern, wonach Kommissionsmitglieder ihr Amt niederlegen müssen, wenn sie bei Wahlen zum Europäischen Parlament antreten wollen. Die deutsche Bundeskanzlerin, der tschechische, dänische oder estnische Premierminister lassen ihr Amt auch nicht ruhen, wenn sie sich zur Wiederwahl stellen. Ebenso wenig sollte dies von einem Kommissionsmitglied verlangt werden. Wenn wir eine Kommission wollen, die den Anforderungen der realen Welt gerecht wird, sollten wir die Kommissionsmitglieder ermutigen, die nötige Begegnung mit der Demokratie zu suchen. Und ihnen keine Steine in den Weg legen.

SCHLUSSBEMERKUNGEN

Sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete,

ich bin genauso jung wie das Europäische Projekt, das im kommenden März 60 wird.

Mein ganzes Leben lang habe ich für dieses Projekt gelebt und gearbeitet.

Mein Vater glaubte an Europa, weil er an Stabilität, an die Rechte der Arbeitnehmer und an sozialen Fortschritt glaubte.

Weil er nur allzu gut wusste, dass der Frieden in Europa kostbar war – und fragil.

Ich glaube an Europa, weil mein Vater mir diese Werte vermittelt hat.

Aber was vermitteln wir unseren Kindern heute? Was werden wir ihnen hinterlassen? Eine Union, die in Zwietracht auseinanderbricht? Eine Union, die ihre Vergangenheit vergessen und keine Vision für die Zukunft hat?

Unsere Kinder haben etwas Besseres verdient.

Ein Europa, das ihre Art zu leben schützt und erhält.

Ein Europa, das sie stärker macht und verteidigt.

Ein Europa, das sie beschützt.

Es ist an der Zeit, dass wir alle – die EU-Institutionen, die Regierungen, die Bürgerinnen und Bürger – die Verantwortung dafür übernehmen, dieses Europa aufzubauen. Gemeinsam.