Zu Unrecht wird Präsident Erdoğan vorgeworfen, das Osmanische Reich wieder herstellen zu wollen. Für ihn sind territoriale Eroberungen kein Ziel, sondern ein Mittel zur Herstellung von Bündnissen. Nach langem Zögern will er sich nicht zum Sultan, sondern zum Kalifen erklären lassen und so zum Führer der Sunniten der ganzen Welt werden.
Dieser Artikel folgt auf:
– “Wird Arzach (Karabach) das Grab von Erdoğan werden? », und
– „Karabach: Die NATO unterstützt die Türkei und versucht, Präsident Erdoğan zu eliminieren“, von Thierry Meyssan, Übersetzung Horst Frohlich, Korrekturlesen : Werner Leuthäusser, Voltaire Netzwerk, 6. Oktober 2020 und 13. Oktober 2020.
Einen Monat nach dem Angriff Aserbaidschans auf die Armenier in Karabach rücken die aserbaidschanischen und türkischen Armeen militärisch vor, während Baku und Ankara die diplomatischen Rückschläge einstecken.
Alles in allem verläuft alles so, wie wir es erwartet hatten: und zwar mit der Vorbereitung einer alliierten Operation gegen den Führer der Bruderschaft der Muslimbrüder, Recep Tayyip Erdoğan, der zufällig der Präsident der Türkei ist. Diese Operation könnte gleich zu Beginn des erneuten Völkermords an den Armeniern ausgelöst werden.
Da jedoch unvorhergesehene Akteure in diesen Krieg eingreifen und das Ergebnis der US-Präsidentschaftswahlen ungewiss ist, könnte Washingtons Plan gestört werden.
Die Türkei mit vielen ungelösten Konflikten
– Seit ihrer Gründung leugnet die moderne Türkei den Völkermord an Nicht-Muslimen (1894-95 und 1915-23) und vernichtet zahlreiche Beweise. 2018 wurden jedoch Dokumente gefunden, die die Befehle des Osmanischen Reiches und der Jungen Türken belegen [1].
– Seit 1974 besetzt die Türkei den Nordosten Zyperns. Sie behauptet sich dort immer noch, obwohl die Insel 2004 der Europäischen Union beigetreten ist. Die türkische Armee besetzt also seit 16 Jahren einen Teil des Unionsgebiets.
– Im Jahr 2012 führte die Türkei im Auftrag der NATO eine Operation zur Entvölkerung Syriens durch. Sie bot den Bewohnern im Norden des Landes an, vorübergehend bei sich Zuflucht zu suchen, bis sich die militärische Lage geklärt hat. Sie hat mehrere neue Städte gebaut, um sie unterzubringen, aber sie hat ihnen immer noch keinen Zugang zu diesen Häusern gewährt.
– Im Jahr 2012 marschierte die Türkei in Nordsyrien ein, wo sie noch immer das Gouvernorat Idlib besetzt. Dann plünderte sie die Industrie in Aleppo und stahl alle Werkzeugmaschinen, die sie in den Fabriken fand.
– Im Jahr 2013 erlitt der "Al-Qaida Banker", der Saudi Yasin Al-Qadi, in Istanbul zusammen mit dem Sicherheitschef von Präsident Erdoğan einen Autounfall. Ein Sohn von Erdoğan ging ihn sofort im Krankenhaus besuchen.
– Im Jahr 2014 überwachte die türkische Armee die Dschihadisten in Syrien und griff mit ihnen verschiedene Ortschaften an, darunter die armenische Stadt Kassab und zwang die Bevölkerung zur Flucht.
– Im Jahr 2015 gab der türkische Geheimdienst Daesh volle Unterstützung, während eine Gesellschaft des Schwiegersohns von Präsident Erdoğan, Powertans, den Transport des von den Dschihadisten gestohlenen Öls in den Hafen von Ceyhan organisierte. Von dort aus kaufte ein Unternehmen, BMZ Group Denizcilik ve İnşaat A.Ş., das von einem Sohn von Präsident Erdoğan gekauft wurde, das Öl nach Israel und in den Westen. Zur gleichen Zeit leitete eine Tochter von Präsident Erdoğan ein geheimes Krankenhaus in Şanlıurfa, um die Dschihadisten zu behandeln und sie in den Kampf zurück zu schicken.
– 2015 errichtete die türkische Mafia unter der Führung von Ministerpräsident Binali Yıldırım Fälschungswerkstätten in den von Daesh kontrollierten Gebieten und beförderte die Waren nach Europa.
– Im Jahr 2015 drohte die Türkei der Europäischen Union, auf brutale Art und Weise eine Million Flüchtlinge aus Afghanistan, Irak und Syrien zu schicken, bis sie hohe Subventionen erhalten hatte, die es ihr ermöglichten, ihre Kriege fortzusetzen.
– In den Jahren 2015-6 lehnte die Türkei das Ende der geheimen Abkommen mit Frankreich und Belgien über die Schaffung eines Kurdistans in Syrien ab. Sie organisierte eine Reihe von Anschlägen gegen beide Länder (138 Tote in Frankreich und 35 Tote in Belgien).
– Im Jahr 2016 weigerte sich die türkische Armee, trotz der Forderungen der Regierung, das irakische Territorium zu verlassen. Sie verfügte dort über provisorische Stützpunkte seit der US-Besatzungszeit, benutzte sie aber, um Daesh gegen den Irak zu unterstützen. Sie ist immer noch dort.
– Im Jahr 2017 führte Präsident Erdoğan eine Wahl-Kampagne bei türkischen Gemeinden im Ausland. Es wurde ihm in den Niederlanden und in Deutschland untersagt, sie zu treffen. Bei dieser Gelegenheit bezeichnete er Kanzlerin Angela Merkel als "Nazi".
– 2019 unterschrieb die Türkei ein Abkommen mit der libyschen Regierung in Tripolis und dann ein anderes mit Tunesien. Sie begann Dschihadisten von der von ihr besetzten Zone in Syrien dorthin zu schicken und stationierte sie dort. Sie kämpfen derzeit gegen die emiratischen Kräfte, die die Regierung in Bengasi unterstützen.
– Im Jahr 2020 beanspruchte die Türkei Gasvorräte im Mittelmeer. Die Seegrenzen zu Griechenland wurden bei der Gründung des Landes nicht genau festgelegt. Sicher hat sie das Recht auf mehrere Zonen, aber nicht auf alle. Bei dieser Gelegenheit bedrohte die türkische Marine die französische Marine.
Diese Liste ist natürlich nicht erschöpfend.
Der Konflikt zwischen den USA und der Türkei
Die Vereinigten Staaten haben den Erdoğan-Clan in Frage gestellt, sobald er begonnen hat, Waffen von Russland zu kaufen und eine Pipeline mit Russland zu bauen. Von diesem Moment an versuchten die USA, ihn demokratisch zu stürzen, indem sie die Demokratische Partei der Völker (HDP) unterstützten. Nachdem die AKP die Parlamentswahlen im Juni und November 2015 manipuliert hatte, versuchte die CIA mehrmals, den "Großen Mann" (Spitzname von Recep Tayyip Erdoğan) zu ermorden. Der vierte Versuch, am 15. Juli 2016, eskalierte, und die Offiziere, die ihn anführten, improvisierten einen Staatsstreich, der scheiterte.
Seitdem vervielfacht Präsident Erdoğan die Provokationen, aber unterstreicht zugleich die Nato-Mitgliedschaft der Türkei. So ordnete er auf einer offiziellen Reise die Unterdrückung einer Demonstration der Anhänger von Fethullah Gülen vor seiner Botschaft in Washington durch seinen persönlichen Sicherheitsdienst an. Er hat auch einen US-amerikanischen Staatsbürger einsperren lassen.
Der derzeitige US-Plan besteht darin, ihn zu einem Fehler zu verleiten, um internationale Unterstützung gegen ihn zu erhalten, nach dem Vorbild der Gleichschaltung von Saddam Hussein (Operation "Wüstensturm"). Natürlich kann ein solches zynisches Szenario nur dann stattfinden, wenn Armenier massenweise abgeschlachtet werden und die Kontinuität im Weißen Haus gewährt ist.
Präsident Erdoğan stürzt sich in die Falle
Im Laufe des Monats hat der Erdoğan-Clan immer wieder betont, dass die NATO die Türkei mehr braucht als umgekehrt. Das heißt, das Atlantische Bündnis wird die Türkei niemals aus seinem Klub ausschließen und ihn daher nicht angreifen können.
Der "Große Mann" setzt seine Offensive an allen Fronten fort. So entsandte er Militärberater, die die Küstenwache der libyschen Regierung in Tripolis anstelle der italienischen Berater ausbilden. Auf diese Weise droht er der Europäischen Union, die Schleusen der Migration zu öffnen, aber diesmal aus Afrika. Und außerdem startete er dschihadistische Angriffe auf russische Truppen in Syrien.
Moskau war der einzige, der reagierte. Der Kreml befahl, die Bombardierungen in Idlib wieder aufzunehmen. Er konzentrierte sie auf eine pro-türkische Gruppe, die früher mit Al-Qaida verbunden war, aber behauptete, mit diesem Netzwerk gebrochen zu haben; ein Angriff, der den Geist der russisch-türkischen Dekontaminierungsabkommen verletzt, aber gleichzeitig die Unterwerfung der dschihadistischen Bewegung unter der persönlichen Autorität von Recep Tayyip Erdoğan enthüllt.
Vor allem hat Präsident Erdoğan eine Auseinandersetzung mit dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron begonnen, den er immer wieder beleidigt, mehr noch als Bundeskanzlerin Merkel vor drei Jahren. Dieser Streit ist viel wichtiger, als es den Anschein hat: Er bezieht sich auf den Kern des Problems.
Der Krieg der Zivilisationen konfrontiert nicht den Islam mit dem Christentum, sondern stellt zwei Prinzipien gegenüber: die Staatsreligion oder die Gewissensfreiheit
Nach vielem Hin und Her versucht Recep Tayyip Erdoğan die existenzielle Frage der Türkei zu beantworten, indem er sie als Heimat der Muslimbrüder definiert. Entgegen einer allgemein akzeptierten Idee hat er die neo-osmanischen Fantasien seines ehemaligen Premierministers Ahmet Davutoğlu (jetzt in der Opposition) aufgegeben; ebenso hat er auf die natürlichen Räume verzichtet, die für die Türkei die türkischsprachige Welt und der Westen (Europäische Union / NATO) sind; er hofft, seine Macht in der gesamten muslimischen Welt zu verbreiten, indem er sich an das Prinzip einer Staatsreligion klammert, deren Kalif er werden will.
Hier ist es wichtig, daran zu erinnern, dass Mohammed nicht wie Christus, ein kleiner Zimmermann war. Er war ein Politiker und siegreicher General und zugleich ein spiritueller Führer. Als er starb, spalteten sich seine Jünger und kämpften gegeneinander. Der "Kalif" (d.h. sein "Nachfolger") erbte seine zeitliche Macht, nicht die spirituelle. Viele Kalifen übrigens, glaubten offensichtlich nicht an Gott. Am Ende des Ersten Weltkriegs war der "Kalif" der osmanische Herrscher mit Wohnsitz in Konstantinopel (Istanbul). Das Ideal der Bruderschaft der Muslimbrüder ist es, das Kalifat (die zeitliche Macht des Propheten) durch das Recht seiner Zeit, die Scharia, wiederherzustellen. Wie die Europäer im 16. Jahrhundert ist die Muslimbruderschaft der Ansicht, dass ein Volk die Religion seines Herrschers annehmen muss [Anm.d. Ü.: “cuius regio, eius religio“]; eine radikal dem Grundsatz der Gewissensfreiheit widersprechende Weltanschauung, die Frankreich durch den Religionswechsel von Heinrich IV. (1593 [2]) als Kompromiss hinsichtlich des Laizismus (1905 [3]) eingeführt hat. Damit versuchen Recep Tayyip Erdoğan und die Bruderschaft einen Rückschritt zu vollziehen, indem sie das Erbe von Mustafa Kemal Atatürk, dem Gründer der Türkei, auslöschen.
Es ist daher sehr logisch, dass Präsident Erdoğan seinen französischen Amtskollegen zum Vorkämpfer seiner Gegner gewählt hat. Der Ausgang des Kampfes wird von den USA bestimmt. Entweder verteidigen sie das britische Erbe der "Pilgerväter" der Mayflower (Joe Biden, Justin Trudeau), oder jenes der Immigranten des alten Kontinents (Donald Trump). Im ersten Fall werden sie vor allem die Türkei in der NATO halten, im zweiten Fall werden sie ihren Grundsatz der religiösen Koexistenz verteidigen, bis das Kalifat-Projekt scheitert.
[1] Killing Orders : Talat Pasha’s Telegrams and the Armenian Genocide, Taner Akçam, Palgrave Macmillan, 2018 ; Ordres de tuer : Arménie 1915 [Tötungsbefehle: Armenien 1915], Taner Akçam, CNRS éditions, 2020.
[2] Um König von Frankreich zu werden, schwur Prinz Heinrich von Navarra seiner (protestantischen) Religion in der Basilika von Saint-Denis ab und bekehrte sich zum Katholizismus. Im Gegenzug proklamierte er Religionsfreiheit für alle seine Untertanen, ohne sie selbst in Anspruch zu nehmen.
[3] Nach vielen Wendungen verkündeten die Republikaner die Gewissensfreiheit. Auf dieser Grundlage haben sie Gesetze über die Trennung von Staat und Kirchen (1905) erlassen. Diese Trennung ist jedoch nicht vollständig: Es bleibt eine staatliche Kontrolle über das Sakrament der Ehe in bestimmten Religionen. Die Möglichkeit, die Gleichstellung homosexueller Paare im Recht zu garantieren, eine "Homo-Ehe" zu schaffen, ist unter diesem Gesichtspunkt ein historischer Fehler. Die Kontinuität mit der Säkularisierungsbewegung der Gesellschaft hätte im Gegenteil gewollt, dass man die heterosexuelle Ehe in die Privatsphäre stellt; eine Option, die die Kirche von Frankreich akzeptiert hatte und die Papst Franziskus heute verteidigt.
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