Der russische Außenminister Sergej Lawrow am 24. April 2023 als Vorsitzender des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen.

Russland und China besitzen Waffen, die denen des Westens weit überlegen sind. Russland hat den Krieg in Syrien gewonnen und steht kurz davor, in der Ukraine zu gewinnen. Trotz aller Bemühungen ist die NATO, die im Nahen Osten bereits durch Dschihadisten gescheitert ist, nicht in der Lage, die Realität auf dem Schlachtfeld umzukehren.

Die Denkweise der ehemaligen Kolonialmächte lässt sie glauben, dass Russland und China ihre militärische Überlegenheit nutzen werden, um dem Rest der Welt ihre Lebensweise aufzuzwingen. Das ist überhaupt nicht ihre Absicht, und das ist auch nicht das, was sie tun.

Moskau und Peking fordern weiterhin die Anwendung des Völkerrechts. Nichts mehr. Die Russen wünschen bei sich zu Hause in Ruhe zu leben, während die Chinesen hoffen, überall Handel treiben zu können.

Die Ereignisse in der Ukraine haben uns die Forderungen vergessen lassen, die Russland seit 2007 immer wieder wiederholt hat: Russland verlangt eigene Sicherheitsgarantien, besonders die Abwesenheit von Arsenalen von Drittländern, die bei seinen Nachbarn gelagert werden. Russland hat nicht die Mittel, um seine Grenzen, die größten der Welt, zu verteidigen. Es kann daher seine Sicherheit nicht gewährleisten, wenn sich feindliche Armeen an mehreren Fronten an seinen Grenzen versammeln, außer mittels der "Strategie der verbrannten Erde" von Marschall Fédor Rostopchin. Das war der Sinn aller Verhandlungen über die Wiedervereinigung Deutschlands. Die UdSSR war dagegen, es sei denn, das „Neue Deutschland“ verpflichtete sich, keine NATO-Waffen im Osten zu lagern. Das war das Ziel aller Verhandlungen mit den ehemaligen Warschauer-Pakt-Staaten. Und das war wieder der Sinn der Verhandlungen mit allen Staaten der ehemaligen UdSSR. Moskau hatte nie etwas dagegen einzuwenden, dass sich ein Staat seine Verbündeten auswählt und schließlich der NATO beitritt. Es sprach sich jedoch immer dagegen aus, wenn die NATO-Mitgliedschaft auf dem Territorium eines Nachbarstaates die Einrichtung von NATO-Waffenbeständen mit sich brachte.

Moskau zeigte sich erst 1999 zufrieden, als 30 OSZE-Mitgliedstaaten die Istanbuler Erklärung unterzeichneten, die als "Charta für Sicherheit in Europa" bekannt ist und zwei Hauptprinzipien festlegt:

 das Recht jedes Staates, die Verbündeten seiner Wahl zu wählen,

 und die Pflicht jedes Staates, die Sicherheit anderer nicht zu gefährden, wenn er seine eigene Sicherheit gewährleistet.

Es war die Verletzung dieser Prinzipien, und sie allein, die zum Ukraine-Konflikt führte. Das war die Bedeutung der Rede von Präsident Wladimir Putin auf der Münchner Sicherheitskonferenz im Jahr 2007: Er verurteilte damals die Nichteinhaltung der OSZE-Verpflichtungen und die Errichtung einer "monopolaren" Weltregierung.

Der Westen, der Russland als gescheitertes Land betrachtete, stimmte natürlich zu, dass es Recht hatte, spotteten aber über seine Ohnmacht. Er hat sich geirrt: Russland richtete sich wieder auf und überholte ihn. Heute nutzt Russland seine Stärke, um uns dazu zu bringen, die Prinzipien, die wir unterzeichnet haben, zu respektieren, und nicht, um uns ihre Denkweise aufzuzwingen.

Seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion hat der Westen seine Verpflichtungen aus dem Kalten Krieg vernachlässigt, um eine "Neue Weltordnung" aufzubauen, wie Margaret Thatcher und George Bush Sr. es ausdrückten; eine "regelbasierte" Neue Weltordnung, die der Westen selbst definiert hat. Wir haben also Verstöße gegen unsere Unterschrift und damit gegen das Völkerrecht angehäuft.

Es gibt eine grundsätzliche Unvereinbarkeit zwischen dem Völkerrecht, das sich aus der Haager Konferenz von 1899 ergibt, und dem angelsächsischen Recht: Das Völkerrecht ist eine positive Konvention. Er wird einstimmig aufgestellt. Das heißt, es wird von jedem akzeptiert, der es anwendet. Dagegen basiert das angelsächsische Recht auf Gewohnheit, auf Usus. Es ist daher immer im Rückstand zur Entwicklung der Welt und begünstigt diejenigen, die die Welt beherrscht haben.

Ab 1993 begann der Westen, alle internationalen Verträge nacheinander zu ersetzen, um sie in angelsächsisches Recht umzuschreiben. Madeleine Albright, die die Vereinigten Staaten von Präsident Bill Clinton im UN-Sicherheitsrat vertrat, war die Tochter von Professor Josef Korbel. Dieser tschechische Diplomat, heute Professor an der Universität von Denver, lehrte, dass der beste Weg für die Vereinigten Staaten, die Welt zu beherrschen, nicht darin bestand, sie militärisch zu erobern, sondern sie dazu zu bringen, ihr eigenes Rechtssystem anzunehmen, wie es die britische Krone in ihrem Imperium getan hatte. Nachdem sie als Botschafterin bei den Vereinten Nationen gedient hatte, wurde Madeleine Albright Außenministerin. Als Präsident George W. Bush die Nachfolge von Bill Clinton antrat, nahm Josef Korbels Adoptivtochter Condoleezza Rice nach Colin Powells Intermezzo dessen Platz ein. In der Praxis hat der Westen zwei Jahrzehnte lang geduldig das Völkerrecht zerstört und seine Regeln durchgesetzt, bis zu dem Punkt, an dem er sich jetzt den nachdrücklichen Titel "Internationale Gemeinschaft" anmaßt.

Am 21. März 2023 einigten sich die Präsidenten Russlands und Chinas, Wladimir Putin und Xi Jinping, in Moskau auf eine gemeinsame Strategie, um das Völkerrecht zum Sieg zu führen. In ihren Köpfen gilt es einfach, alles das zu demontieren, was Madeleine Albright und Condoleezza Rice erreicht haben.

Russland, das während des Monats April den Vorsitz im UN-Sicherheitsrat innehatte, beschloss, eine offene Debatte zum Thema "Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit: wirksamer Multilateralismus auf der Grundlage der Verteidigung der in der Charta der Vereinten Nationen verankerten Prinzipien" zu führen.

Die Sitzung unter dem Vorsitz des russischen Außenministers Sergej Lawrow zielte nicht darauf ab, die schmutzige Wäsche auszupacken, die sich seit dem Untergang der Sowjetunion angesammelt hatte, sondern darauf, so viele Staaten wie möglich zu mobilisieren. In dem von Russland vor der Debatte in Umlauf gebrachten Rahmen-Vermerk (S/2023/244) erläuterte Moskau, wie die westliche unipolare Ordnung das Völkerrecht ersetzte. Es warnte auch vor der Rolle der nichtstaatlichen Akteure, der berühmt-berüchtigten "NGOs", in diesem System. In diesem Rahmenpapier wurde außerdem betont, dass die Nutzung der Menschenrechte als Kriterium für eine verantwortungsvolle Staatsführung nicht zu einem zu erreichenden Ziel führen, sondern sie zu einer politischen Waffe machen und ihre Verbesserung ernsthaft behindern. Im Allgemeinen werden nun internationale Tribunale verwendet, um das Gute zu predigen und nicht um Gesetz zu sprechen. Sie werden fast nicht mehr zur Beilegung von Streitigkeiten eingesetzt, sondern vor allem zur Schaffung von Hierarchien; um zu spalten und nicht mehr um zu vereinen. Die Note schloss mit einer Reihe von Fragen, darunter: "Was könnte getan werden, um die Kultur des Dialogs und des Konsenses innerhalb der [UN-]Organisation, einschließlich des Sicherheitsrates, wiederherzustellen? Was ist der beste Weg, um zu zeigen, dass die gegenwärtige Situation, die durch eine selektive Herangehensweise an die Normen und Grundsätze des Völkerrechts, einschließlich der Charta, gekennzeichnet ist, inakzeptabel ist und nicht länger andauern kann? ».

Die Intervention des UN-Generalsekretärs, des Portugiesen António Guterres, ermöglichte es nicht, voranzukommen. Er beschränkte sich darauf, das künftige Programm der Vereinten Nationen vorzustellen. Die sehr große Zahl der Teilnehmer an der Debatte teilte sich dann in drei Gruppen auf.

Russland lobte die UN-Charta und bedauerte ihre Entwicklung in den letzten dreißig Jahren. Es plädierte für die Gleichheit aller souveränen Staaten und prangerte die exorbitante Macht des Westens und seiner unipolaren Organisation an. Es erinnerte daran, dass die militärische Sonderoperation in der Ukraine die Folge eines Staatsstreichs im Jahr 2014 in Kiew war und dass daher das Problem nicht die Ukraine war, sondern die Art und Weise, wie wir internationale Beziehungen führen. Nebenbei warnte Russland den UN-Generalsekretär und erinnerte ihn an seine Pflicht zur Unparteilichkeit. Es betonte, dass, wenn die Dokumente der bevorstehenden Gipfeltreffen der Organisation dieses Prinzip nicht respektieren würden, sie die Welt weiter spalten würden, anstatt sie zu vereinen.

Die Gruppe der Freunde zur Verteidigung der Charta der Vereinten Nationen und die Gruppe der 77 haben den russischen Ansatz unterstützt.

Eine zweite Gruppe, die sich aus westlichen Politikern zusammensetzte, lenkte die Debatte ständig auf die ukrainische Frage ab, weigerte sich, den Maidan-Putsch zu berücksichtigen, betonte die Gewalt der russischen "Invasion" und erinnerte an ihren menschlichen Preis.

Eine dritte Gruppe feuerte schärfere Pfeile ab. Pakistan verurteilte den Begriff des "vernetzten Multilateralismus" im Gegensatz zu einer internationalen Ordnung souveräner und gleichberechtigter Staaten. Er lehnte auch jede Aussicht auf eine "unipolare, bipolare oder gar multipolare" Welt ab, wenn sie von einigen wenigen ultramächtigen Staaten beherrscht werden soll. Äthiopien und Ägypten prangerten die Rolle an, die die Großmächte nichtstaatlichen Akteuren übertragen haben.

Während Russland und China vor der Debatte verschiedene Delegationen an die internationalen Verträge erinnert hatten, die die Neue Weltordnung schamlos verletzt, gab es in dieser Debatte keine Fragen über besondere Fälle, mit Ausnahme der Ukraine, die vom Westen angesprochen wurde.

Man muss jedoch die vielfältigen Forderungen der Nicht-Westmächte antizipieren, d.h. der Regierungen, die 87% der Weltbevölkerung repräsentieren.

So verpflichtete sich:
 Finnland 1947 schriftlich, neutral zu bleiben. Seine Mitgliedschaft in der NATO ist daher ein Verstoß gegen seine eigene Unterschrift.
 Die baltischen Staaten haben sich bei ihrer Gründung im Jahr 1990 schriftlich verpflichtet, die Denkmäler zu Ehren der Opfer der Roten Armee zu erhalten. Die Zerstörung dieser Denkmäler ist daher ein Verstoß gegen ihre eigene Unterschrift.
 Die Vereinten Nationen verabschiedeten die Resolution 2758 vom 25. Oktober 1971, in der anerkannt wurde, dass Peking und nicht Taiwan der einzige legitime Vertreter Chinas ist. Infolgedessen wurde die Regierung von Chiang Kai-Schek aus dem Sicherheitsrat ausgeschlossen und durch die von Mao Zedong ersetzt. Daher stellen beispielsweise die jüngsten chinesischen Marinemanöver in der Taiwanstraße keine Aggression gegen einen souveränen Staat dar, sondern eine freie Stationierung seiner Streitkräfte in seinen eigenen Hoheitsgewässern.
 Mit dem Vertrag über die Nichtverbreitung von Kernwaffen von 1968 verpflichteten sich die Unterzeichnerstaaten, keine Kernwaffen an ein Drittland weiterzugeben. Im Rahmen der NATO haben die Vereinigten Staaten jedoch taktische (nicht strategische) Atombomben auf einige ihrer Stützpunkte im Ausland verlegt. Darüber hinaus haben sie ausländisches Militärpersonal für ihren Einsatz geschult. Dies stellt einen Verstoß gegen ihre Unterschrift durch die Vereinigten Staaten sowie durch Deutschland, Belgien, Italien, die Niederlande und die Türkei dar.
usw. usw.

Was wir, "der Westen", letztlich von Russland und China zu befürchten haben, ist, dass sie uns zwingen, wir selbst zu sein und unser Wort zu halten.

Übersetzung
Horst Frohlich
Korrekturlesen : Werner Leuthäusser