Videobotschaft von Präsident Erdoğan anlässlich des Festes des Opfers 2019.

Im achtzehnten Jahrhundert, während des Krimkrieges, war der Zar das erste Staatsoberhaupt, das die doppelte, politische und geistige Rolle des Kalifen erkannte. Konstantinopel hatte militärisch verloren, aber sein Sultan behielt die Macht über die Seelen der Tataren.

Die Sultane hatten sich im Namen der Stellung, die sie in der Geschichte der islamischen Welt durch die Kraft ihres Schwertes erobert hatten, als Nachfolger von Muhammad selbst ernannt. In Abwesenheit von Rivalen übernahmen sie die geistige Führung dieser Gläubigen, auch außerhalb ihres Reiches.

Am Ende des ersten Weltkrieges, als das Sultanat endgültig besiegt und aufgelöst war, befand sich Mustafa Kemal mit diesem Erbe in großer Verlegenheit. Er versuchte die weltliche Macht, die er in die Hand genommen hatte, von der spirituellen Macht zu trennen, welche er dann erfolglos versuchte, zuerst auf eine arabische Persönlichkeit und dann auf eine andere, indische, zu übertragen. Letztlich konnte er keine andere Lösung finden, als das Kalifat am 5. März 1924 abzuschaffen, um die Türkei zu modernisieren [1]

Für den König von England und Oberhaupt der anglikanischen Kirche, George V., wurde es möglich, das Kalifat in einer seiner Kolonien wiederherzustellen und somit auch die geistige Macht über alle Muslime zu ergreifen. Das ist, was König Fuad I. im kolonisierten Ägypten vergeblich versuchte.

Hassan el-Banna gründete 1928 die Bruderschaft der Muslim-Brüder, um die ägyptische Gesellschaft zu regenerieren. Die Tätigkeit der Bruderschaft war ausschließlich moralisierender Art. Allerdings sah sie von Anfang an das Erfordernis, nach der erfolgten «Islamisierung» der Lebensart des Volkes die Einheit der Muslime um das Kalifat wiederherzustellen, und dann das Kalifat auf die ganze Welt zu verbreiten. König Fouad I. sah in ihr eine starke Unterstützung seines Kollaborations-Regimes mit dem britischen Empire. Die Bruderschaft präsentierte daher Kandidaten bei den Parlamentswahlen von 1942 und ließ den weltlichen Premierminister im Jahre 1948 ermorden, gemäß den Erwartungen von König Faruk.

Der Philosoph der Bruderschaft, Sayyed Qutb, beschrieb seinerseits das Kalifat nicht als Ideal, das man in der fernen Zukunft erreicht, sondern als eine reife Frucht der sozialen Wiederbelebung. Anwar el-Sadat, mit dem er als Verbindungsoffizier zwischen der Bruderschaft und den "freien Offizieren" fungiert hatte, gewann die ägyptische Präsidentschaft mit der Unterstützung der CIA. Er islamisierte die Gesellschaft und bereitete seine Verkündigung als Kalif durch das Parlament vor. Aber die Bruderschaft, die es aber nicht so verstand, ließ ihn durch den islamischen Dschihad von Ayman al-Zawahiri ermorden [2].

Gleicherweise hat Daesch denken können - gegen den Rat von Ayman al-Zawahiri, der Emir von Al-Qaida geworden war - es habe die "islamische" Ordnung verhängt und die perfekte Gesellschaft in Rakka erreicht. Daesch sei daher berechtigt, das Kalifat am 14. Juni 2014 auszurufen.

Laut dem Bericht über die Teilnahme des türkischen Geheimdienstes an der vorbereitenden Sitzung für die Eroberung des Irak durch Daesch (Amman, 27. Mai bis 1. Juni 2014), der von der türkischen Tageszeitung Özgür Gündem enthüllt wurde, ist diese Proklamation von den anglo-israelisch-US-amerikanischen Teilnehmern nicht erwähnt worden [3]. Es ist daher möglich, dass es sich da um eine Initiative der Söldner des Islamischen Staates gehandelt haben könnte, die über ihre Mission hinausging. Wie auch immer, für Ankara war das Kalifat die Gelegenheit, die verlorene spirituelle Macht über die ganze muslimische Welt wieder zurück zu erobern.

Logischerweise hat die islamistische Türkei Daesch vorbehaltlos unterstützt. Nur Russland hat diese Tatsache angeprangert, zuerst während des G20-Gipfels in Antalya (November 2015), dann durch fünf Geheimdienst-Berichte, die zwischen dem 29. Januar und 17. Mai 2016 dem Sicherheitsrat der Vereinten Nationen übergeben wurden [4].

Die militärische Niederlage des Kalifats gegen die syrischen und irakischen Armeen hat der Türkei das schlechteste Bild von ihr selbst gesendet, das sie haben konnte. Es gibt keinen Unterschied zwischen den Horden von Timur, die sich auf Bagdad stürzen und den Toyota- Konvois, die Mosul einnehmen und öffentliche Verbrennungen organisieren [5]. Auch kein Unterschied mehr zwischen dem Völkermord von Nicht-Muslimen - einschließlich der armenischen Christen - durch Sultan Habdul Hamid II. und dann durch die jungen Türken, und jenem der jezidischen Kurden und den Massen-Enthauptungen von laizistischen Einwohnern. In wenigen Monaten wurde die ganze Arbeit von Mustafa Kemal, die Kinder "des Steppenwolfs" der Barbarei zu entreißen und eine moderne Türkei zu bauen, auf nichts reduziert.

Daher muss man die Änderung in Ankara anlässlich des 3. Jahrestages des Attentats auf Präsident Recep Tayyip Erdoğan in Marmara und des folgenden improvisierten Staatsstreich sehr ernst nehmen. Der Weg der Muslim-Bruderschaft hat dieses Land in eine Sackgasse voller Schrecken und Gewalt geführt. Nachdem die AKP sich als "Beschützerin" der Bruderschaft gesehen hat, muss sie zu einer Trennung der Sittenmoral und der Politik zurückkehren, im Gefolge von Atatürk. Das ist keine Wahl, sondern lebensnotwendig [6].

Die Propaganda, laut der das Pseudo-’Rojava’ kein Element von Daesch enthalte, und das vage, mit den USA beschlossene Abkommen über das nördliche Syrien, ändert nichts an dieser Wende. Sie verschieben diese Klärung nur auf einen etwas späteren Zeitpunkt. Ankara kann nur den Prozess von Astana-Nour fortsetzen.

Deshalb hat Präsident Recep Tayyip Erdogan in seiner Videobotschaft für das Opferfest an den einheitlichen Charakter dieses Rituals in Erinnerung an die jüdisch-christlich-muslimische Offenbarung von Abraham erinnert, dann an die türkischen militärischen Siege, und hat seine Rede mit einem unpassenden Aufruf zur Sicherheit im Straßenverkehr beendet. Ankara wendet sich vorsichtig zu einer Neudefinition seiner Identität, nicht mehr religiös, auch nicht nationalistisch, nicht mehr exklusiv, sondern zu einer inklusiven Identität.

Übersetzung
Horst Frohlich
Korrekturlesen : Werner Leuthäusser

[1The Inevitable Caliphate? A History of the Struggle for Global Islamic Union, 1924 to the Present, Reza Pankhurst, Oxford University press, 2013.

[2Die Muslimbruderschaft als Mörder“, von Thierry Meyssan, Übersetzung Sabine, Voltaire Netzwerk, 12. Juli 2019.

[3« Daesh réalise le rêve des Frères musulmans : le Califat », par Thierry Meyssan, Réseau Voltaire, 26 juillet 2019.

[5Im 14. Jahrhundert eroberten die Mongolen Westasien. Es sind ihre Nachkommen, die das Osmanische Reich gründeten.

[6Die Türkei wird sich weder auf die NATO noch auf die OKVS ausrichten“, von Thierry Meyssan, Übersetzung Horst Frohlich, Korrekturlesen : Werner Leuthäusser, Voltaire Netzwerk, 6. August 2019.