Trotz des guten Willens einiger Teilnehmer hat die Pariser Konferenz für Libyen vor Ort nicht die erwünschten Erfolge gehabt. Für Thierry Meyssan lässt sich das durch die Doppelzüngigkeit der NATO und der Vereinten Nationen erklären, die behaupten, das Land stabilisieren zu wollen, obwohl ihre Aktionen dem Cebrowski-Plan der Zerstörung der staatlichen Strukturen entsprechen. Die Pariser Inszenierung war von einer tiefgreifenden Unkenntnis der Besonderheiten der libyschen Gesellschaft durchdrungen.
Seit der Vernichtung der libyschen arabischen Dschamahirija im Jahr 2011 durch die NATO hat sich die Lage in Libyen sehr verschlechtert: Das BIP fiel auf die Hälfte und große Teile der Bevölkerung leben in Armut; es ist unmöglich, innerhalb des Landes zu reisen; überall herrscht Unsicherheit. In den vergangenen Jahren sind zwei Drittel der Bevölkerung ins Ausland geflohen, zumindest vorübergehend.
Nachdem die Rechtswidrigkeit der Intervention der NATO als Verlust abgeschrieben war, versucht die UNO nun das Land wieder zu stabilisieren.
Die Versuche der Befriedung
Die Vereinten Nationen sind präsent durch die MANUL (Mission der Unterstützung der Vereinten Nationen in Libyen), die ein rein politisches Organ ist. Der wahre Charakter dieser Behörde ist sofort nach ihrer Gründung in Erscheinung getreten. Ihr erster Direktor, Ian Martin (ehemaliger Direktor von Amnesty International), organisierte die Umsiedlung von 1500 Dschihadisten von Al-Kaida als "Flüchtlinge" (sic!) von Libyen in die Türkei, um die so genannte [FSA] "Freie syrische Armee“ zu bilden. Natürlich wird heute die MANUL von Ghassan Salamé geleitet [1], aber sie untersteht direkt dem Direktor der politischen Angelegenheiten der Vereinten Nationen, der niemand anderer ist als Jeffrey Feltman. Nun ist dieser ehemalige Assistent von Hillary Clinton im US-Außenministerium jedoch einer der Baumeister des Cebrowski-Barnett-Plans für die Zerstörung der Staaten und der Gesellschaften des "Erweiterten Nahen Osten" [2]. Er ist genau derjenige, der die Angriffe gegen Libyen und Syrien aus diplomatischer Sicht beaufsichtigte [3].
Die Vereinten Nationen gehen von der Idee aus, dass das aktuelle Chaos die Folge des "Bürgerkrieges" von 2011 ist, der das Regime von Muammar Gaddafi gegen seine Opposition aufwiegelte. Allerdings beschränkte sich diese Opposition, während der NATO-Intervention, auf die Dschihadisten von al-Kaida und den Stamm der Misurata. Als ehemaliges Mitglied der letzten Regierung der Libysch-Arabischen Dschamahirija kann ich bezeugen, dass die Initiative der NATO sich nicht auf einen Libyen-Konflikt beschränkte, sondern einer regionalen langfristigen Strategie gegen den gesamten Erweiterten Nahen Osten gehorchte.
Während der Parlamentswahlen von 2014 hatten die Islamisten, die Boden-Kämpfe im Auftrag der NATO führten, nur geringe Ergebnisse erzielt. Sie beschlossen damals, das "Repräsentanten-Haus" (mit Sitz in Tobruk) nicht anzuerkennen und ihr eigenes Parlament (mit Sitz in Tripolis) zu schaffen, das sie jetzt den "Hohen Staatsrat“ nennen. Da Feltman dachte, dass diese zwei rivalisierenden Gruppen ein Zweikammer-System bilden könnten, stellte er die zwei Gruppen auf die gleiche Ebene. Kontakte zwischen ihnen fanden in den Niederlanden statt, dann wurden die Skhirat (Marokko) Verträge unterzeichnet, aber ohne die Zustimmung der beiden Parlamente. Diese "Vereinbarungen" führten zu einer von der UNO nominierten "Regierung der nationalen Einheit" (zunächst mit Sitz in Tunesien).
Um die Entwicklung einer neuen Verfassung sowie Präsidentschafts- und Parlamentswahlen vorzubereiten, hat Frankreich als Ersatz für die Bemühungen der Niederlande und Ägyptens, Ende Mai ein Gipfeltreffen mit jenen organisiert, die die Vereinten Nationen als die vier wichtigsten Führer des Landes bezeichnen, im Beisein von Vertretern der wichtigsten beteiligten Staaten vor Ort. Diese Initiative ist in Italien stark kritisiert worden [4]. Öffentlich hat man von Politik gesprochen, während man heimlich die Konturen einer gemeinsamen libyschen Zentralbank ausarbeitete, die den Diebstahl des libyschen Staatsfonds durch die NATO vertuschen [5] und das Öl-Geld zentralisieren sollte. Wie auch immer, nach der Unterzeichnung einer gemeinsamen Erklärung und den üblichen Umarmungen, hat sich die Situation vor Ort plötzlich verschlechtert [6].
Der französische Präsident, Emmanuel Macron, handelt gemäß seiner Erfahrung als Investment-Banker: Er hat die wichtigsten libyschen, von den Vereinten Nationen gewählten Führer versammelt; er hat mit ihnen diskutiert, wie man ihre jeweiligen Interessen schützen kann, um eine Regierung zu bilden, die von allen anerkannt wird. Er hat sichergestellt, dass die ausländischen Mächte dieses Verfahren nicht sabotieren können; und er dachte, dass die Libyer diese Lösung begrüßen würden. Allerdings war dem nicht so, weil Libyen ein von den westlichen Gesellschaften völlig verschiedenes Land ist.
Es ist klar, dass Frankreich, das mit dem Vereinigten Königreich die Speerspitze der NATO gegen Libyen gewesen ist, versucht, die Dividenden seiner militärischen Intervention einzuheimsen, um die seine angelsächsischen Verbündeten Frankreich gebracht haben.
Um zu verstehen was passiert ist, muss man zurückgehen und die Art und Weise analysieren, in der die Libyer aufgrund ihrer persönlichen Erfahrung leben.
Die Geschichte von Libyen
Libyen existiert nur seit 67 Jahren. Nach dem Sturz des Faschismus und dem Ende des zweiten Weltkrieges wurde diese italienische Kolonie von den Briten (in Tripolitanien und Kyrenaika) und von den Franzosen besetzt (in Fezzãn, den sie abteilten und administrativ an ihre Kolonien Algerien und Tunesien anschlossen).
London begünstigte die Entstehung einer von Saudi Arabien kontrollierten Monarchie, der Senussi-Dynastie, die das Land seit der "Unabhängigkeit" im Jahr 1951 regierte. Mittels der wahhabitischen Religion hält diese Monarchie den neuen Staat in völligem Obskurantismus, während sie die wirtschaftlichen und militärischen Interessen der Angelsachsen fördert.
1969 wurde sie von einer Gruppe von Offizieren gestürzt, welche die wahre Unabhängigkeit ausrief und die ausländischen Truppen hinauswarf. An der inländischen politischen Front schrieb Muammar Gaddafi 1975 ein Programm, das Grüne Buch, in dem er der Bevölkerung der Wüste garantiert, ihre wichtigsten Träume zu erfüllen. Während beispielsweise jeder Beduine davon träumte, sein eigenes Zelt und sein Kamel zu haben, versprach er jeder Familie eine kostenlose Wohnung und ein Auto. Die Libysch-Arabische Dschamahirija gewährte ebenso Wasser [7], kostenlose Bildung und Gesundheit [8].
Die nomadische Bevölkerung der Wüste wurde allmählich an der Küste sesshaft, aber die Bindungen jeder Familie an ihren ursprünglichen Stamm bleiben wichtiger als die nachbarschaftlichen Beziehungen. Nationale Institutionen wurden eingeführt, die durch die Erfahrungen der „Falanstères“ der utopischen Sozialisten des 19. Jahrhunderts inspiriert wurden. Sie schufen eine direkte Demokratie, aber behielten die alten Stammesstrukturen bei. So wurden wichtige Entscheidungen zuerst der beratenden Versammlung der Stämme vorgelegt, bevor sie auf dem allgemeinen Kongress des Volkes (Nationalversammlung) diskutiert wurden. International bemühte sich Gaddafi, den uralten Konflikt zwischen Arabern und Schwarz-Afrikanern zu lösen. Er setzte der Sklaverei ein Ende und verwendete einen Großteil der Öl-Gelder, um der Entwicklung der Sub-Sahara Länder, insbesondere Mali zu helfen. Seine Tätigkeit weckte die Westmächte auf, die dann eine Entwicklungspolitik zur Unterstützung des Kontinents begannen.
Trotz der erzielten Fortschritte genügten dreißig Jahre Dschamahirija jedoch nicht, um dieses afrikanische Saudi-Arabien in eine moderne säkulare Gesellschaft zu verwandeln.
Das aktuelle Problem
Durch die Zerstörung dieses Regimes und das Hissen der Flagge der Senussi hat die NATO das Land wieder in den vor 1969 herrschenden Zustand zurückversetzt: eine Reihe von Stämmen, die in der Wüste leben, von der Außenwelt abgeschnitten. In Ermangelung eines Staates hat sich die Bevölkerung auf die Stammesstrukturen zurückgezogen, ohne einen obersten Staatsmann. Scharia, Rassismus und Sklaverei sind wieder in Erscheinung getreten. Unter diesen Bedingungen ist es ineffektiv, die Ordnung von oben wiederherstellen zu wollen. Es ist im Gegenteil unbedingt nötig, zuerst die Beziehungen zwischen den Stämmen zu befrieden. Nur dann, wenn dieser Vorgang abgeschlossen ist, wäre es möglich, demokratische Institutionen in Betracht zu ziehen. Bis dahin wird die individuelle Sicherheit nur durch die Stammeszugehörigkeit gewährleistet sein. Um zu überleben, werden die Libyer sich eigenständiges Denken untersagen, und sich immer auf die Einstellung ihrer Gruppe beziehen.
Der Fall der Unterdrückung der Tawarga durch die Bewohner von Misurata ist hierfür beispielhaft. Die Misuratas sind die Nachfahren der türkischen Soldaten des osmanischen Heeres, jene von Tawarga die Nachfahren von ehemaligen schwarzen Sklaven. Im Verbund mit der Türkei nahmen die Misuratas am Sturz der Dschamahirija teil. Sobald die Flagge der Senussi aufgezwungen worden war, entfesselten sie eine rassistische Wut gegen die Schwarzen. Sie beschuldigten sie aller Arten von Verbrechen und haben 30000 von ihnen zur Flucht gezwungen.
Natürlich wird es sehr schwierig sein, eine Persönlichkeit wie Muammar Gaddafi wieder zu finden, die zunächst von den Stämmen, dann von dem Volk anerkannt wird. Aber in Wirklichkeit ist es das nicht, was Jeffrey Feltman sucht. Im Gegensatz zu offiziellen Aussagen über eine „integrative“ Lösung, d. h. die Integration aller Elemente der libyschen Gesellschaft, hat Feltman mit Hilfe der Islamisten, mit denen er im Außenministerium gegen Gaddafi kollaboriert hat, ein Gesetz aufgezwungen, das den Personen, die für Gaddafi gearbeitet haben, alle öffentlichen Ämter verbietet. Das Repräsentantenhaus weigerte sich, diesen in Tripolis immer noch in Kraft befindlichen Text umzusetzen. Diese Maßnahme ist vergleichbar mit dem Prozess der „Entbaathifizierung“, den der gleiche Feltman im Irak verhängte, als er dort einer der Führer der „provisorischen Behörde der Koalition“ war. In beiden Fällen entziehen diese Gesetze diesen Ländern den Großteil ihrer Eliten und veranlassen sie zur Gewalt zu greifen oder ins Exil zu gehen. Natürlich verfolgt Feltman immer die Ziele des Projekts Cebrowski, stets vorgebend für den Frieden zu arbeiten.
Entgegen dem Anschein ist das Problem Libyens nicht die Rivalität zwischen Führungspersönlichkeiten, sondern die Abwesenheit von Frieden zwischen den Stämmen und der Ausschluss der Gaddafi-Anhänger. Die Lösung kann nicht zwischen den vier in Paris versammelten Führern ausgehandelt werden, sondern nur innerhalb und rund um das Repräsentantenhaus von Tobruk, dessen Autorität jetzt schon 80 % des Territoriums umfasst.
[1] Ghassan Salamé ist ein libanesischer Politiker und französischer Akademiker. Er ist der Vater der französischen Journalistin Léa Salamé und der Direktorin der Stiftung Boghossian de Belgique, Louma Salamé. Er hat mit Jeffrey Feltman im Irak, aber nicht im Libanon gearbeitet.
[2] „Das militärische Projekt der Vereinigten Staaten für die Welt“, von Thierry Meyssan, Übersetzung Horst Frohlich, Voltaire Netzwerk, 22. August 2017.
[3] „Deutschland und die Uno gegen Syrien“, von Thierry Meyssan, Übersetzung Horst Frohlich, Sabine, Al-Watan (Syrien) , Zeit Fragen (Schweiz) , Voltaire Netzwerk, 28. Januar 2016.
[4] Im Jahr 2011 lehnte sich der Präsident des Rates Silvio Berlusconi gegen die Intervention der NATO auf. Er wurde von seinem eigenen Parlament zur atlantischen Ordnung zurückgerufen.
[5] « La rapine du siècle : l’assaut des volontaires sur les fonds souverains libyens », [Der Raub des Jahrhunderts : der Sturm der Willigen auf die libyschen Souvereignfonds] par Manlio Dinucci, Traduction Marie-Ange Patrizio, Il Manifesto (Italie), Réseau Voltaire, 22 avril 2011. [Manlio Dinucci kommt zurück auf ein schon zu Beginn des Krieges in Libyen auf unserer Seite hervorgehobenes Element: les puissances coloniales « volontaires » se sont appropriées les colossaux investissements de l’État libyen à l’étranger. [die willigen Kolonialmächte haben sich die kolossalen Auslands- Investitionen des libyschen Staates angeeignet]. Das in westlichen Banken eingefrorene Geld bedrohte das Monopol der Weltbank und des IWF durch die Finanzierung von Entwicklungsprojekten in der dritten Welt. Es "arbeitet" weiter, (aber nicht mehr in der Form von Investitionen, sondern als Bankbürgschaften), diesmal jedoch zum Wohle der Menschen im Westen.] (Text auch auf Englisch).
[6] « Déclaration politique sur la Libye », Réseau Voltaire, 29 mai 2018.
[7] Ab 1991 baut Libyen den "großen künstlichen Fluss". Es ist ein riesiges Netzwerk zur Ausbeutung des in großen Tiefen befindlichen Grundwassers in dem Becken von Nubien. Dieses gigantische System ist einzigartig in der Welt.
[8] Wegen Mangel an genügend Krankenhäusern wurden die Operationen oft im Ausland auf Kosten des Staates durchgeführt.
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