Die Wahl des neuen Europäischen Parlaments findet je nach Mitgliedstaat vom 6. bis 9. Juni statt. Die Parlamentarier werden nur sehr begrenzte Befugnisse haben: Sie stimmen über die von der Kommission ausgearbeiteten Gesetze ab. Seit seiner Gründung ist es nur der Transmissionsriemen der NATO in den europäischen Institutionen. Die Kommission stützt sich sowohl auf den Rat der Staats- und Regierungschefs als auch auf die europäischen Arbeitgeber (BusinessEurope). Die Parlamentarier haben auch eine Resolutions-Befugnis, mit der sie ihre Meinung mit einfacher Mehrheit äußern, ohne dass jemand sie liest oder weiterverfolgt. Da die gegenwärtige Mehrheit atlantisch eingestellt ist, übernehmen all diese Meinungen das Wortgeklingel der NATO-Propaganda auf.

Diese Wahlen haben in den verschiedenen Mitgliedstaaten traditionsgemäß die Funktion eines Blitzableiters. Die Exekutive fürchtet sie daher und fördert eine Vermehrung alternativer Listen in den Gebieten ihrer Konkurrenten. In Frankreich, wo die Gesetzgebung zur Wahlkampffinanzierung sehr restriktiv ist, kommt das Geld, das die Vereinigten Staaten und der Élysée-Palast in diese Kampagnen stecken, hauptsächlich von ausländischen Staaten (in der Regel afrikanischen) und den Druckereien der Kandidaten. Diese Strategie hat zu einer beeindruckenden Vervielfachung der Listen geführt: bereits 21 in Frankreich und 35 in Deutschland!

Obwohl die Wahlen immer listenbasiert sind, hat jeder Mitgliedstaat sein eigenes Wahlsystem. In den meisten Fällen handelt es sich dabei um Sperrlisten wie in Deutschland und Frankreich. In einigen anderen übertragbaren Listen: Jede zu besetzende Position wird einzeln gewählt (was die Rolle der Parteien bei gleichzeitiger Beibehaltung der Proportionalwahl verringert), wie in Irland und Malta. In anderen Fällen können die Wähler die Reihenfolge der von ihnen gewählten Kandidaten ändern, z. B. in Schweden und Belgien. Oder, wie in Luxemburg, können sie Kandidaten aus verschiedenen Listen auswählen. Jede dieser Abstimmungsmethoden hat ihre Vor- und Nachteile, aber ergibt nicht dasselbe.

Die EU-Verträge hatten europäische Parteien vorgesehen, aber bis heute gibt es sie nicht; ein Zeichen dafür, dass es kein europäisches Volk gibt.

Nationale Parteien sind daher eingeladen, sich in europäischen Parteienbündnissen zusammenzuschließen, die ihren Kandidaten für das Amt des Präsidenten der Europäischen Kommission nominieren können. Der Europäische Rat der Staats- und Regierungschefs muss ihn fortan aus ihrer Mitte wählen. Diese indirekte Wahlmethode wurde 2014 eingeführt. In der Praxis wurde die größte Koalition im Voraus identifiziert. Jean-Claude Juncker und dann Ursula von der Leyen wurden daher ernannt, bevor ihre Koalition eine relative Mehrheit erhielt.

Sollte Mario Draghi sich an der Spitze der Kommission durchsetzen, müsste also die Koalition, die als Sieger hervorging, im letzten Moment ihre Haltung ändern. Sie hätte erneut Ursula von der Leyen nominiert, aber nachdem sie vom Draghi-Bericht über die Wettbewerbsfähigkeit europäischer Unternehmen erfahren hatte, würde sie sich für ihn entscheiden. Diese Manipulation würde es ermöglichen, die Diskussionsthemen abrupt zu wechseln: Während der Wahlen ist von der Bilanz der von der Leyen-Regierung die Rede, dann plötzlich aber von der Föderalisierung der Europäischen Union zu Lasten der Mitgliedstaaten.

Dies ist ein Thema, von dem die Wähler nichts verstehen. Sie denken vielleicht, dass "in der Zahl Stärke liegt", aber nicht, was das Verschwinden der einzelnen Mitgliedstaaten für sie bedeuten würde. Die Union ist schon in keiner Weise eine demokratische Organisation, und der europäische Staat wäre es noch weniger.

Auch wenn Mario Draghi nicht kandidieren kann, lautet die zentrale und doch verborgene Frage: "Sollen die Bevölkerungen der Europäischen Union einen einzigen Staat bilden oder nicht, obwohl sie bis heute kein gemeinsames Volk bilden?" Mit anderen Worten, werden sie akzeptieren, dass ihnen Entscheidungen von einer Mehrheit von "Regionen" (wir sollten nicht mehr von Mitgliedstaaten sprechen) auferlegt werden, denen sie nicht angehören?

Dieses Problem war bereits 1939 von Reichskanzler Adolf Hitler explizit angesprochen worden. Er beabsichtigte, ein Großdeutschland zu bilden, das sich aus allen deutschsprachigen Völkern zusammensetzte, im Zentrum einer Konstellation kleiner europäischer Staaten, die jeweils um eine ethnische Gruppe herum gegründet gewesen wären. Nach dem Fall des Reiches 1946 forderte der britische Premierminister Winston Churchill die Bildung der Vereinigten Staaten von Europa, an denen sein Land nicht teilnehmen sollte [1]. Für das "Imperium, über dem die Sonne nie untergeht" ging es darum, mit einem einzigen Gesprächspartner umgehen zu können, der nicht mit ihm hätte konkurrieren können. Auch dieses Projekt wurde nicht realisiert, diesmal zugunsten eines "gemeinsamen Marktes". Zu ihm kehren wir jetzt zurück.

In wirtschaftlicher Hinsicht bewegt sich die Union in Richtung einer Spezialisierung der Arbeit: Deutschland ist beispielsweise für Autos, Frankreich für Luxusgüter und Polen für landwirtschaftliche Produkte zuständig. Aber was werden die deutschen und französischen Bauern denken, die geopfert werden, oder die polnischen Autohersteller, die ebenfalls geopfert werden?

In der Außen- und Verteidigungspolitik befindet sich die Union bereits auf einer atlantischen Linie. Das heißt, sie verteidigt die gleichen Positionen wie Washington und London. Aber diese Linie würde allen aufgezwungen werden, auch den Ungarn, die sich weigern, antirussisch zu werden, oder den Spaniern, die sich weigern, die israelischen Völkermörder zu unterstützen. Gemäß den Verträgen ist die NATO für die Verteidigung der Union zuständig. US-Präsident Donald Trump forderte, dass diese Verteidigung die Vereinigten Staaten nichts kosten sollte und die Europäer daher ihre Militärbudgets auf 2% ihres BIP erhöhen müssten. Bisher haben dies nur acht der 27 Staaten getan. Wenn die EU nun zu einem einzigen Staat würde, wäre Washingtons Wunsch für alle eine Verpflichtung. Für einige Staaten, wie Italien, Spanien oder Luxemburg, würde dies eine plötzliche Belastung ihrer Sozialprogramme bedeuten. Es ist unwahrscheinlich, dass die betroffenen Bevölkerungsgruppen dies schätzen würden.

Hinzu kommt noch der besondere Fall Frankreichs, das einen Sitz im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen und die Atombombe besitzt. Es sollte diese Trümpfe in den Dienst des einheitlichen Staates stellen, auf die Gefahr hin, dass die Mehrheit des Europäischen Rates sie gegen die französische Meinung einsetzt. Auch hier werden die betroffenen Bevölkerungen, in diesem Fall die Franzosen, dies nicht akzeptieren.

Darüber hinaus wäre der „Europa-Staat“ (ohne Verbindung zum europäischen Kontinent, der ja viel größer ist) daher ein Imperium, obwohl ein Teil seines Territoriums (Nordzypern) seit 1974 von der Türkei besetzt ist, er dies aber toleriert.

Keines dieser Probleme ist neu. Ihretwegen haben einige Politiker, darunter General Charles De Gaulle, den "gemeinsamen Markt" akzeptiert und ein "föderales Europa" abgelehnt. Diese Probleme stehen jetzt wieder im Mittelpunkt der Sorgen der atlantischen europäischen Führer, aber nicht ihrer Völker. Deshalb werden sie alles tun, um diese Probleme bei den kommenden Wahlen zu verbergen. Das ist das zentrale Thema, aber es ist jenes, das nervt.

Zu diesen politischen Problemen kommt noch ein organisatorisches. Das Industriezeitalter ist dem der Informatik und der künstlichen Intelligenz gewichen. Die vertikalen Organisationen des frühen 20. Jahrhunderts, sei es in der Wirtschaft oder in der Politik, sind anderen, horizontalen, vernetzten Organisationen gewichen. Das vertikale Modell des Europa-Staates ist also überholt, bevor es selbst das Licht der Welt erblickt hat. Darüber hinaus haben alle, die diese riesige Verwaltungsmaschinerie kennen, bereits ihre Leere erkannt, die letztendlich nur dazu führt, das Wachstum, das sie stimulieren sollte, zu bremsen. Die EU liegt jetzt schon weit hinter China, Russland und den Vereinigten Staaten. Das föderale Projekt wird es ihr nicht nur nicht erlauben, wieder auf die Beine zu kommen, sondern sie hinter die aufstrebenden Mächte zurückfallen lassen.

Man könnte denken, dass die Befürworter des Europa-Staates ein Interesse daran haben, eine breite Beteiligung zu fördern, um ihr Projekt zu legitimieren. Dies ist jedoch nicht der Fall, da das föderale Projekt während dieser Kampagne nicht erwähnt wird; dass man es für die Zukunft mit Mario Draghi reserviert. Also tun sie alles in ihrer Macht Stehende, um zu betonen, dass die Institution Wahlen praktiziert (was ausreichen würde, um sie demokratisch zu machen) und sicherzustellen, dass sich so wenig Menschen wie möglich beteiligen. Die Wahlbeteiligung in der gesamten EU erreicht möglicherweise nicht die Hälfte der Wählerschaft.

Übersetzung
Horst Frohlich
Korrekturlesen : Werner Leuthäusser

[1Winston Churchills Rede über die Vereinigten Staaten von Europa“, von Winston Churchill, Übersetzung Horst Frohlich , Voltaire Netzwerk, 19. September 1946.