Ich freue mich über die Möglichkeit, an der Jahresversammlung des Rats für Außen- und Verteidigungspolitik (SVOP) teilzunehmen. Es ist immer angenehm, mit Ihnen zusammenzutreffen und das unverändert hohe intellektuelle Potential zu spüren, das den Rat, seine Leiter und einzelnen Vertreter befähigt, auf das, was in der Welt geschieht, zu reagieren und eine Einschätzung der Ereignisse abzugeben. Wobei diese Einschätzungen immer frei von Hysterie sind, profund und solide, ein bisschen distanziert, denn wir, die wir mitten im Geschehen stehen, sind kaum fähig, alles objektiv zu bewerten. Wir geraten zwangsläufig unter den Einfluss der Entwicklungen, weshalb Ihre Beobachtungen, Analysen, Auslegungen und Anregungen umso wertvoller für uns sind.

Soweit ich weiß, wird der Schwerpunkt der Diskussion in diesem Jahr auf der Beratung über die Perspektiven einer beschleunigten inneren Entwicklung Russlands liegen. Zweifellos ist hier eine Konsolidierung der Bemühungen unserer ganzen Gesellschaft im Interesse der Sicherung eines umfassenden Aufschwungs im wirtschaftlichen, sozialen und geistigen Bereich die Garantie für eine sichere Zukunft Russlands. Auch wenn ich unter beruflichem Aspekt gezwungen bin, mich auf außenpolitische Fragen zu konzentrieren, haben diese dennoch einen Bezug zur Agenda, da die interne Entwicklung in Zeiten von wechselseitiger Abhängigkeit und Globalisierung nicht von der Außenwelt isoliert werden kann.

Der Präsident Russlands, Wladimir Putin, teilte seine Einschätzungen zu der aktuellen internationalen Lage im Rahmen des Waldai-Klubs in Sotschi und in seinen Interviews im Rahmen der Asienreise ausführlich mit. Daher kann ich heute nichts Grundlegendes berichten – das ist alles gesagt. Ich werde jedoch versuchen, einzelne Überlegungen vorzustellen, die während unserer Tätigkeit im praktischen außenpolitischen Bereich entstehen. Ich erhebe keinen Anspruch auf einen umfassenden und verlässlichen Ausblick, da jede Prognose, egal von wem sie gemacht wird, im jetzigen Stadium nur sehr bedingt wäre. Außerdem besteht die Aufgabe der Mitarbeiter im diplomatischen Tätigkeitsbereich darin, auf das Geschehen einzuwirken und nicht, es zu untersuchen.

Beginnen werde ich natürlich mit dem Ukraineproblem. Lange bevor die Krise ausbrach, lag das Gefühl in der Luft, dass wir in unseren Beziehungen zwischen Russland und der EU, Russland und dem Westen auf eine Art Stunde der Wahrheit zugehen. Es war klar, dass es nicht gelingen würde, das Problem unserer Kooperation auf später zu verschieben und eine Wahl getroffen werden musste – entweder umzuschwenken zu einer echten Partnerschaft oder zu beginnen, wie man sagt, die „Töpfe zu zerschlagen“. Russland wählte zweifellos die erste Variante, aber unsere westlichen Partner blieben leider gewollt oder ungewollt bei der zweiten. Im Grunde sind sie in der Ukraine auf „Alles oder Nichts“ gegangen und haben ihre eigenen Prinzipien eines demokratischen Machtwechsels mit Füßen getreten, indem sie Extremisten unterstützten. Herausgekommen ist eine Art Versuch, mit Russland das Feiglingsspiel zu spielen – wer zuerst kneift. Oder, anders ausgedrückt, sie haben versucht, uns einzuschüchtern, uns zu zwingen, die Demütigung der Russen und Russischsprachigen in der Ukraine zu schlucken.

Der allgemein bekannte und von mir geschätzte Leslie Gelb schrieb, dass das Assoziierungsabkommen mit der EU keine Einladung der Ukraine in die EU war, sondern nur kurzfristig darauf abzielte, ihren Eintritt in die Zollunion zu verhindern. Das ist die Einschätzung eines unvoreingenommenen und unparteiischen Mannes. Auf vieles haben sie vergessen, als sie den Weg der Eskalierung der Situation in der Ukraine gingen, noch dazu bewusst, es war ihnen klar, wie das in Russland aufgefasst würde. Sie haben die Ratschläge vergessen, die unter anderem Otto von Bismarck gegeben hat, der warnte, dass es ein sehr großer politischer Fehler wäre, die Millionen des großrussischen Volkes schlecht zu behandeln.

Der Präsident Russlands, Wladimir Putin, sagte neulich, dass es in der ganzen Geschichte noch niemandem gelungen sei, Russland seinem Einfluss zu unterwerfen. Das ist keine Einschätzung, sondern die Feststellung einer Tatsache. Dennoch wurde ein solcher Versuch unternommen, um den Durst nach Ausweitung des vom Westen kontrollierten geopolitischen Raums zu stillen und aus der kaufmännischen Befürchtung heraus, einen Gewinn zu versäumen, der – wie man sich jenseits des Ozeans einredete – dem Westen als Sieger im „kalten Krieg“ zustand.

Das Positive an der entstandenen Situation ist, dass alles an seinen Platz gerückt wurde und alle Kalkulationen, die den Handlungen des Westens zugrunde liegen, nun unter dessen deklarierter Bereitschaft zum Aufbau eines einheitlichen euroatlantischen Raumes und einer Sicherheitsgemeinschaft, eines gemeinsamen europäischen Hauses, hervorgekommen sind. Wie sang doch Bulat Okudschawa – „die Vergangenheit wird klarer, klarer, klarer“. Jetzt beginnt alles zusehends klarer zu werden. Unsere Aufgabe besteht aber hier und heute nicht nur darin, uns über Vergangenes klar zu werden (obwohl auch das sein muss), sondern primär darin, über die Zukunft nachzudenken.

Wenn von einer Isolierung Russlands die Rede ist, so verdient das keine ernsthafte Erörterung. Es steht nicht dafür, in diesem Auditorium speziell darauf einzugehen. Natürlich kann unsere Wirtschaft beeinträchtigt werden, und sie wird beeinträchtigt, aber genauso schadet es denen, die diese Maßnahmen ergreifen und was nicht minder wichtig ist, es zerstört das System der internationalen Wirtschaftsbeziehungen und der Prinzipien, auf denen dieses beruht. Wenn früher Sanktionen verhängt wurden (als ich noch in der Ständigen Vertretung Russlands bei der UNO arbeitete), sagten unsere westlichen Partner, wenn es sich um die Koreanische Volksdemokratische Republik, den Iran oder andere Staaten handelte, dass die Restriktionen so formuliert werden müssten, dass humanitäre Grenzen gewahrt bleiben und nicht die Sozialsphäre und Wirtschaft geschädigt wird, sondern selektiv und gezielt die Elite getroffen wird. Jetzt ist alles umgekehrt: die westlichen Staatschefs erklären öffentlich, dass die Sanktionen so zu gestalten sind, dass sie die Wirtschaft zerstören und Proteste in der Bevölkerung auslösen, das heißt, was die grundlegenden Herangehensweisen an die Verwendung von Zwangsmaßnahmen betrifft, zeigt der Westen eindeutig, dass es ihm nicht darum geht, die Politik Russlands zu ändern (was an sich illusorisch ist), sondern dass er einen Regierungswechsel will – was praktisch von niemandem bestritten wird.

Vor kurzem sprach der Präsident Russlands, Wladimir Putin, bei einem Interview mit Journalisten vom begrenzten Planungshorizont der heutigen Politiker im Westen. In der Tat ist es gefährlich, wenn die Entscheidungen zu wichtigen Problemen, die die Entwicklung der Welt und der Menschheit insgesamt betreffen, ausgehend von Wahlzyklen getroffen werden: in den USA ist das alle zwei Jahre, und jedes Mal muss etwas ausgedacht und getan werden, um Wählerstimmen zu gewinnen. Das ist die negative Seite des demokratischen Prozesses, doch können wir nicht umhin, ihr Rechnung zu tragen. Es ist keine Logik erkennbar, wenn uns gesagt wird, uns abzufinden, zu entspannen und als gegeben hinzunehmen, dass alle darunter leiden müssen, dass in den USA alle zwei Jahre Wahlen stattfinden. So geht es nicht. Wir werden uns damit nicht abfinden, weil der Einsatz zu hoch ist in Bezug auf die Bekämpfung des Terrorismus, die Bedrohungen der Verbreitung von Massenvernichtungswaffen und viele andere blutige Konflikte, deren negative Folgen weit über die Grenzen der jeweiligen Staaten und Regionen hinausgehen. Das Bestreben, etwas zu tun, um sich entweder einseitige Vorteile zu erkämpfen oder den Wähler für die nächsten Wahlen zu beeindrucken, führt nur zu Chaos und Durcheinander in den internationalen Beziehungen.

Wir hören das täglich wiederholte Mantra, dass Washington sich seiner eigenen Exklusivität bewusst ist und der Pflicht, die Bürde auf sich zu nehmen, den Rest der Welt anzuführen. Rudyard Kipling sprach von der „Bürde des weißen Mannes“. Ich hoffe, dass nicht das die Amerikaner treibt. Die Welt ist heute weder weiß noch schwarz, sondern bunt und inhomogen. Eine Führerschaft in der Welt kann nicht gewährleistet werden, indem man sich seine eigene Exklusivität und die gottgegebene Pflicht, für alle Verantwortung zu tragen, einredet, sondern nur durch die Fähigkeit und Kunst, einen Konsens zu bilden. Wenn die amerikanischen Partner ihre Macht darauf lenken würden, so wäre das unbezahlbar und Russland würde aktiv dabei mithelfen.

Aber vorerst funktionieren die amerikanischen administrativen Ressourcen noch im Rahmen der NATO, und da mit wesentlichen Vorbehalten, aber außerhalb der Nordatlantikallianz sind sie durchaus nicht die Norm. Davon zeugen übrigens die Ergebnisse der von den Amerikanern unternommenen Versuche, im Zusammenhang mit den antirussischen Sanktionen und Richtlinien die Weltgemeinschaft hinter sich „aufzustellen“. Ich habe mehrmals davon gesprochen und wir haben zahlreiche Bestätigungen dafür, dass amerikanische Botschafter und Gesandte in der ganzen Welt Treffen auf höchster Ebene arrangieren und sagen, dass die jeweiligen Länder verpflichtet seien, gemeinsam mit ihnen Russland zu bestrafen und sie ansonsten gezwungen wären, ihnen gegenüber Konsequenzen zu ziehen. Dabei wird das mit ausnahmslos allen Staaten gemacht, einschließlich unserer engsten Verbündeten (solche Analysten hat Washington anscheinend). Die überwiegende Mehrheit der Staaten, mit denen wir in ständigem Dialog stehen und gegen die es keine Restriktionen und Isolierungen gibt, schätzt, wie Sie sehen, die selbständige Rolle Russlands in der internationalen Arena. Nicht, weil es ihnen gefällt, wenn jemand den Amerikanern widerspricht, sondern weil sie verstehen, dass eine Weltordnung, in der man seine Meinung nicht laut sagen kann, nicht von Bestand sein wird (zwar äußert die überwiegende Mehrheit ihre Meinung hinter vorgehaltener Hand, doch aus Furcht vor Repressalien von Seiten Washingtons wollen sie es nicht öffentlich tun).

Vielen vernünftigen Analysten ist klar, dass die Kluft zwischen den globalen Ambitionen der US-Administration und den realen Möglichkeiten dieses Staates größer wird. Die Welt verändert sich und wie das in der Geschichte immer war, erreicht jemandes Einfluss und Macht irgendwann ihren Höhepunkt und es finden dann Prozesse statt, wo sich andere noch schneller und effektiver zu entwickeln beginnen. Man muss die Geschichte studieren und von Realitäten ausgehen. Die „Siebener“-Gruppe der aufstrebenden Volkswirtschaften mit den BRICS-Staaten an der Spitze hat bereits ein höheres BIP als die westliche G-7. Man sollte vom Leben ausgehen und nicht von einem falschen Verständnis der eigenen Größe.

Es ist modern geworden zu behaupten, dass Russland auf der Krim und in der Ukraine einen „hybriden Krieg“ führt. Ein interessanter Begriff, aber ich würde ihn vor allem in Bezug auf die USA und die amerikanische Kriegsstrategie verwenden – die ist tatsächlich hybrid und weniger auf eine militärische Zerschlagung des Gegners ausgerichtet, als auf einen Regimewechsel in Staaten, die eine in Washington unerwünschte Politik betreiben. Man setzt finanziellen und wirtschaftlichen Druck ein, Informationsattacken, eine Intensivierung des Drucks mit Hilfe Dritter rund um die Grenzen des jeweiligen Staates und natürlich informatorische und ideologische Einwirkung mit der Unterstützung von extern finanzierten Nichtregierungsorganisationen. Ist das etwa kein hybrider Prozess und nicht das, was wir Krieg nennen? Es ist interessant, zum Thema des Begriffs des hybriden Krieges Betrachtungen anzustellen – wer ihn führt und ob das ganze Hybrid nur aus den „grünen Männchen“ besteht. Sicher ist das Instrumentarium unserer amerikanischen Partner, das sie perfekt beherrschen, weitaus reichhaltiger.

Indem sie versuchen, ihre Dominanz durchzudrücken, während gleichzeitig neue wirtschaftliche, finanzielle und politische Machtzentren auftauchen, lösen die Amerikaner in voller Übereinstimmung mit dem dritten Newtonschen Gesetz eine Gegenreaktion aus und fördern die Schaffung von Strukturen, Mechanismen und Bewegungen, die auf die Suche nach Alternativen zu den amerikanischen Rezepten zur Lösung der drängendsten Probleme ausgerichtet sind. Es geht dabei überhaupt nicht um Antiamerikanismus und schon gar nicht um die Bildung irgendwelcher gegen die USA gerichteter Koalitionen, sondern um den natürlichen Wunsch einer immer größer werdenden Zahl von Staaten, ihre lebenswichtigen Interessen zu sichern und das so zu tun, wie es diesem konkreten Staat richtig erscheint und nicht, wie ihm von „drüben“ nahegelegt wird. Keiner hat vor, antiamerikanische Spiele zu spielen, allein um den USA Unannehmlichkeiten zu bereiten. Wir sehen uns konfrontiert mit Versuchen und Fakten von exterritorialer Anwendung der nationalen Gesetzgebung der USA und Entführungen von Bürgern unseres Landes, obwohl entsprechende Verträge mit Washington vorhanden sind, die die Lösung dieser Fragen durch Rechtsschutz- und Gerichtsbehörden vorsehen.

Laut nationaler Sicherheitsdoktrin haben die USA das Recht, an jedem beliebigen Ort und wann immer Gewalt anzuwenden, ohne sich unbedingt an den UN-Sicherheitsrat wenden zu müssen. Jetzt wurde eine Koalition gegen den „Islamischen Staat“ (IS) gebildet, ohne Behandlung im Sicherheitsrat. Ich habe US-Staatssekretär John Kerry gefragt, warum sie damit nicht vor den UN-Sicherheitsrat gegangen seien. John Kerry erklärte, dass man dann den Status des Präsidenten Syriens, Baschar al-Assad, hätte festlegen müssen. Gewiss doch, denn Syrien ist ein souveräner Staat und Mitglied der Vereinten Nationen (niemand hat Syrien ausgeschlossen). Der US-Staatssekretär antwortete, das sei nicht richtig, da sie den Terrorismus bekämpfen, und das Regime von Baschar al-Assad der wichtigste Faktor sei, der Terroristen aus der ganzen Welt aktiv werden lässt und sie wie ein Magnet in diese Region in die Reihen der Terroristen zieht, um dieses Regime zu stürzen. Ich halte das für eine völlig perverse Logik. Wenn wir von Präzedenzfällen sprechen (und gerade die USA halten am Präjudizienrecht fest), so sollte die Abrüstung der syrischen Chemiewaffen erwähnt werden, als mit dem Regime von Baschar al-Assad bestens zusammengearbeitet wurde und er ein völlig legitimer Partner der USA, Russlands, der Organisation für das Verbot von Chemiewaffen (OPCW) und anderer war. Mit den Taliban führten und führen die Amerikaner auch Gespräche. Wenn ein Nutzen herausschaut, sind die USA sehr pragmatisch. Ich weiß nicht, warum sich bei ihnen im Fall von Syrien die absolut ideologisierte Position durchgesetzt hat, dass Baschar al-Assad kein Partner ist. Wahrscheinlich geht es weniger um eine Anti-IS-Operation, als vielmehr um die Vorbereitung des Bodens, um letztlich das Regime unter dem Deckmantel einer Anti-Terror-Operation zu stürzen.

Vor kurzem schrieb Francis Fukuyama das Buch „Politische Ordnung und politischer Verfall“, in dem er zu dem Schluss kommt, dass die Effizienz der öffentlichen Verwaltung in den USA zurückgeht und die Traditionen einer demokratischen Staatsführung zu Feudalstaatmethoden verkommen. Soviel zur Frage, wie es sich in einem Glashaus lebt und ob man dort Steine werfen soll.

Das alles geschieht vor dem Hintergrund der immer größer werdenden realen Herausforderungen und Probleme der heutigen Welt. Wir beobachten ein anhaltendendes Tauziehen in der Ukraine. Südlich der Grenzen der Europäischen Union lodern Unruhen auf. Ich glaube nicht, dass die Probleme der Region Nahost und Nordafrika von selbst verschwinden werden. In der EU wurde eine neue Kommission gebildet und neue außenpolitische Akteure sind aufgetaucht, die sich auskämpfen werden müssen, wohin die wichtigsten Ressourcen geleitet werden, ob zur Fortsetzung des Abenteuers in der Ukraine, in Moldawien usw. im Rahmen der „Östlichen Partnerschaft“ (wofür eine aggressive Minderheit in der EU plädiert), oder aber auf die Länder im Süden Europas zu hören und das Augenmerk auf die Geschehnisse jenseits des Mittelmeers zu richten. Das ist eine sehr wichtige Frage für die EU und vorläufig überwiegen diejenigen, die sich nicht von den realen Problemen leiten lassen, sondern von der Ideologie, schnellstens an sich zu raffen, was sie „aufgewühlt“ haben. Das ist traurig. Der Export von Revolutionen, seien es demokratische, kommunistische oder sonstige – führt nie zu etwas Gutem.

In der MENA-Region geht ein tatsächlicher Zerfall der staatlichen, gesellschaftlichen und zivilisatorischen Strukturen vor sich. Die in diesem Prozess freigesetzte destruktive Energie kann Staaten weit außerhalb der Grenzen dieser Region versengen. Die Terroristen (unter anderem die IS) erheben jetzt Anspruch auf einen staatlichen Status. Außerdem beginnen sie damit, sich Territorien anzueignen, sie bilden quasi-staatliche Organe und bauen Verwaltungsstrukturen auf. Vor diesem Hintergrund erfolgt die Vertreibung von Minderheiten, darunter von Christen. In Europa ist es derzeit politisch nicht korrekt, darüber zu reden, es ist ihnen peinlich, wenn wir sie in der OSZE auffordern, gemeinsam etwas in dieser Angelegenheit zu tun. Sie stellen sich die Frage, warum denn die Christen „besonders hervorheben“? Warum sie besonders hervorheben? In der OSZE findet eine ganze Reihe von Veranstaltungen statt, die der Unzulässigkeit des Vergessens der Opfer des Holocaust und dieses Verbrechens an sich gewidmet sind. In der OSZE wurden vor einigen Jahren auf Initiative der Europäer Aktionen gegen die „Islamophobie“ gestartet. Und wir werden vorschlagen, eine Analyse jener Prozesse durchzuführen, die zur „Christenphobie“ führen.

Am 4. und 5. Dezember findet in Basel die OSZE-Ministerkonferenz statt, wo wir diesen Antrag einbringen werden. Doch die meisten EU-Mitglieder weichen diesem Thema aus, weil sie sich schämen, darüber zu reden. So wie es ihnen auch peinlich war, damals in die Verfassung der Europäischen Union, mit deren Ausarbeitung Valéry Giscard d’Estaing betraut war, den Satz aufzunehmen, dass Europa christliche Wurzeln hat. Wenn man sich nicht an seine eigenen Wurzeln und Traditionen erinnert und sie achtet, wie will man dann die Werte und Traditionen anderer respektieren? Das ist nur logisch. Der israelische Politologe Shlomo Avineri vergleicht die Geschehnisse im Nahen Osten mit der Zeit der Religionskriege in Europa und stellt fest, dass das Ergebnis der jetzigen Turbulenzen kaum das sein wird, was der Westen unter demokratischen Reformen versteht.

Im arabisch-israelischen Konflikt bewegt sich nichts. Es ist schwer, an mehreren Tischen gleichzeitig zu spielen. Die Amerikaner versuchen das, aber es gelingt ihnen nicht. Im Jahr 2013 nahmen sie sich 9 Monate Zeit, um den israelisch-palästinensischen Konflikt zu „ordnen“. Ich werde nicht auf die Gründe eingehen, obwohl sie bekannt sind, aber es ist ihnen nicht gelungen. Jetzt haben sie sich noch einmal Zeit erbeten, damit sich bis Ende dieses Jahres irgendein Fortschritt abzeichnet und die Palästinenser nicht zur UNO gehen und das Statut des Internationalen Strafgerichtshofs unterzeichnen usw. Auf einmal stellte sich aber heraus, dass parallel dazu Gespräche mit dem Iran laufen. Das US State Department ließ Palästina fallen und begann sich mit dem Iran zu beschäftigen.

Ich habe mit US-Staatssekretär John Kerry abgemacht, in den nächsten Tagen über dieses Thema zu sprechen. Es ist wichtig zu verstehen, dass das Problem des palästinensischen Staates nicht ständig in der „Tiefkühlung“ gehalten werden darf. Die Nichtbeilegung dieses Problems im Laufe von fast 70 Jahren ist eines der wichtigsten Argumente aus dem Munde derer, die Extremisten in ihre Reihen anwerben: „es gibt keine Gerechtigkeit: man hat versprochen, zwei Staaten zu gründen, der jüdische wurde gegründet, aber den arabischen wird es nie geben“. In einer hungrigen arabischen Straße klingen diese Worte sehr ernst und man beginnt dazu aufzurufen, mit anderen Methoden für Gerechtigkeit zu kämpfen.

Was Russlands Präsident Wladimir Putin auf der Tagung des Waldai-Klubs in Sotschi über die Notwendigkeit einer neuen Version der wechselseitigen Abhängigkeit gesagt hat, ist höchst aktuell. Es ist notwendig, dass sich die führenden Staaten wieder an den Verhandlungstisch setzen und absprechen, wie die grundlegenden gesetzlichen Interessen aller wichtigen Player in einer neuen Version (ich weiß nicht, wie sie heißen wird, aber sie muss sich auf die UN-Charta stützen) verknüpft werden könnten und wie eine vernünftige Selbstbeschränkung und ein gemeinsames Risikomanagement im Kontext von demokratischen internationalen Beziehungen umzusetzen wären. Das alles wird von unseren westlichen Partnern als etwas postuliert, das zu tun hat mit dem, was staatsintern geschehen muss – Primat des Rechts, Demokratie, Achtung des Standpunktes der Minderheiten. Aber in der internationalen Arena weichen sie davon ab, und „Pionier“ für die Grundsätze von Demokratisierung, Gerechtigkeit und Primat des Völkerrechts ist Russland. Eine neue Weltordnung kann nur polyzentrisch sein und sollte die kulturelle und zivilisatorische Vielfalt der heutigen Welt widerspiegeln.

Sie kennen unsere Position bezüglich der Notwendigkeit, die Unteilbarkeit der Sicherheit in der Praxis wie auch im rechtlichen Sinn zu verankern. Ich werde auf dieses Thema nicht näher eingehen.

Ich möchte die These des Rates unterstützen, dass die beschleunigte Entwicklung der östlichen Regionen unseres Landes unbedingt Voraussetzung ist, damit Russland zu einer großen, erfolgreichen und selbstbewussten Macht in der Welt des 21. Jahrhunderts wird. Als einer der ersten konzipierte Sergei Karaganov diese Idee, der ich voll und ganz zustimme. Für unsere Beziehungen zu den Asiatisch-Pazifischen Staaten ist ein Qualitätssprung absolut notwendig. In diesem Sinne arbeitete Russland in Peking auf dem APEC-Gipfel und nutzte insofern auch den G-20-Gipfel. Wir werden unter neuen Bedingungen an diese Aufgabe herangehen, wenn ab 1. Jänner 2015 die Eurasische Wirtschaftsunion startet.

Man hält uns für „Untermenschen“. Seit gut zehn Jahren versucht Russland, eine partnerschaftliche Kooperation mit der NATO auf Ebene der Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS) in Gang zu bringen. Nicht nur, um die NATO und die OVKS „auf eine Stufe“ zu stellen, sondern weil die OVKS mit dem Abfangen von Drogenhändlern und illegalen Migranten rund um die Grenzen von Afghanistan zu tun hat, und die Nordatlantikallianz das Rückgrat für die internationalen Sicherheitsunterstützungstruppen bildet, die unter anderem die Aufgabe hatten, die Terrorbedrohung und die Quellen deren Finanzierung durch Drogenhändler zu bekämpfen. Wir taten unser Möglichstes, wir versuchten es erst mit freundlichen Bitten, dann mit Forderungen, einen Kontakt in Echtzeit herzustellen, damit die NATO-Soldaten, wenn sie eine Karawane mit Drogen aufspüren und außerstande sind diese zu stoppen, dies an die andere Seite der Grenze melden, wo wir sie durch OVKS-Kräfte abfangen hätten können. Aber sie weigerten sich ganz einfach, mit uns zu reden. Mündlich flüsterten uns unsere gutwilligen (im wahrsten Sinne des Wortes) Freunde in der NATO zu, dass die Allianz aus ideologischen Gründen die OVKS nicht als gleichgestellt betrachten könne. Diese herablassende und arrogante Haltung war bis vor kurzem auch in Bezug auf die eurasische Wirtschaftsintegration zu beobachten. Dabei haben die Länder der Eurasischen Wirtschaftsunion und deren Beitrittskandidaten in wirtschaftlicher, historischer und kultureller Hinsicht viel mehr Gemeinsamkeiten als viele Länder der EU. In dieser Union schotten wir uns gegen niemanden ab, sondern betonen den offenen Charakter dieses Zusammenschlusses. Ich bin sicher, dass dies ein wichtiges brückenbildendes Element zwischen Europa und dem Asiatisch-Pazifischen Raum wird.

Erwähnen muss ich schließlich noch den Ausbau einer umfassenden Partnerschaft zwischen Russland und China. Wir haben in bilateraler Hinsicht bedeutende Entscheidungen getroffen, sodass von der Bildung einer russisch-chinesischen Energieallianz gesprochen werden kann, aber das ist nicht alles. Wir haben immer mehr Grund dazu, auch von der Bildung einer russisch-chinesischen technologischen Allianz zu sprechen. Heute ist unser Tandem mit Peking einer der wichtigsten Faktoren für die Aufrechterhaltung der internationalen Stabilität und zumindest eines gewissen Gleichgewichts in internationalen Angelegenheiten und um das Primat des Völkerrechts zu gewährleisten. In vollem Umfang werden wir das Potential der Beziehungen mit Indien und Vietnam - unseren strategischen Partnern – und mit den ASEAN-Ländern nutzen, und wir sind offen für breiteste Zusammenarbeit mit Japan, sofern unsere japanischen Nachbarn einen Sinn für das Verständnis ihrer eigenen Interessen entwickeln und nicht auf irgendwen jenseits des Ozeans schauen.

Zweifellos ist die Europäische Union unser größter kollektiver Partner. Keiner hat vor, sich ins eigene Fleisch zu schneiden, indem auf eine Kooperation mit Europa verzichtet wird, obwohl klar ist, dass ein „business as usual“ nicht mehr möglich ist. Das bekommen wir von unseren europäischen Partnern zu hören, doch geht es darum, dass wir diese Art Business nicht mehr wollen. Sie sind davon ausgegangen, dass Russland etwas schulde, wir aber wollen gleichberechtigt zusammenarbeiten. Daher wird es kein „business as usual“ mehr geben, doch bin ich überzeugt, dass wir das jetzige Stadium überwinden und unsere Lektion gelernt haben werden und es eine neue Basis für unsere Beziehungen geben wird.

Jetzt beginnt man schon laut darüber zu sprechen, dass der Aufbau eines einheitlichen wirtschaftlichen und humanitären Raums von Lissabon bis Wladiwostok eine berechtigte Zielsetzung ist. Der deutsche Außenminister Frank-Walter Steinmeier erklärte öffentlich (obwohl wir schon lange darüber reden), dass es notwendig sei, einen Dialog zwischen der EU und der EAWU aufzubauen. Die Idee, die Russlands Präsident Wladimir Putin im Jänner dieses Jahres in Brüssel geäußert hat, dass man als ersten Schritt Gespräche über die Schaffung einer Freihandelszone zwischen der Europäischen Union und der Zollunion mit Blick auf 2020 aufnehmen müsse, wird nicht mehr als exotisch angesehen. Das alles befindet sich in Arbeit und ist Teil der Diplomatie und Realpolitik geworden. Obwohl es vorerst noch auf Ebene von Diskussionen läuft, bin ich überzeugt, dass wir erreichen werden, was jetzt mit dem Begriff „Integration der Integrationen“ bezeichnet wird. Das wird eines der Schlüsselthemen sein, die wir im Rahmen der OSZE bei der Ministerratskonferenz in Basel vorantreiben wollen.

Russland übernimmt den Vorsitz der BRICS-Staaten und der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit. In Ufa werden die Gipfel dieser beiden Vereinigungen stattfinden. Es sind keine Blöcke (besonders die BRICS-Staaten), sondern Interessenvereinigungen, in denen Länder aller Kontinente vertreten sind, die gemeinsame Ansätze für die Zukunft der Weltwirtschaft, der Finanzen und der Politik teilen.