Frage: Das Hauptereignis des scheidenden Jahres war der Beginn der militärischen Spezialoperation in der Ukraine sowie die anschließende Entwicklung der Situation, darunter eine beispiellose Verschlechterung der Beziehungen zum Westen. Wie meinen Sie, kann sich der Konflikt in der Ukraine in die Länge ziehen, zum Beispiel, für fünf Jahre? Worauf sollten wir uns vorbereiten? Ist eine direkte militärische Konfrontation mit den Ländern, die Kiew unterstützen, möglich?
Sergej Lawrow: Die Handlungen der Länder des „kollektiven Westens“ und des von ihnen kontrollierten Wladimir Selenski bestätigen einen globalen Charakter der Ukraine-Krise. Es ist kein Geheimnis, dass das strategische Ziel der USA und ihrer Nato-Verbündeten „der Sieg gegen Russland auf dem Schlachtfeld" als Mechanismus einer bedeutenden Abschwächung oder sogar Vernichtung unseres Landes ist. Zum Erreichen dieses Ziels sind unsere Opponenten zu vielem bereit.
Der größte Begünstigte des „heißen Konfliktes“ sind die USA, die daraus möglichst viele Vorteile sowohl im wirtschaftlichen, als auch im militär-strategischen Sinne ziehen wollen. Zudem löst Washington eine wichtige geopolitische Aufgabe – traditionelle Verbindungen zwischen Russland und Europa zu verletzen und europäische Satelliten noch mehr zu unterordnen.
Die USA machen alles, um den Konflikt in die Länge zu ziehen und ihn erbitterter zu machen. Pentagon plant offen Aufträge für die US-Rüstungsindustrie für weitere Jahre, erhöht ständig die Obergrenze der Militärausgaben für die Streitkräfte der Ukraine und fordert das auch von anderen Teilnehmern der antirussischen Allianz. Das Kiewer Regime wird bewusst mit modernsten Waffen vollgepumpt, es werden unter anderem Modelle geliefert, die in den westlichen Armeen selbst noch nicht in Betrieb genommen wurden – wohl zu sehen, wie sie unter Kampfbedingungen funktionieren. Seit Februar stieg die Militärhilfe an das Regime auf mehr als 40 Mrd. Dollar, was mit Militäretats vieler Länder Europas vergleichbar ist. Wir wissen auch, dass man sich in amerikanischen politischen Kreisen immer mehr Gedanken über die Einbeziehung der Ukraine in die Nato macht.
Dabei erklären die Westler über das Streben, quasi „über dem Kampf“ zu bleiben, und Unannehmbarkeit eines direkten Zusammenstoßes der Nato mit Russland. Das ist reine Heuchelei. Schon jetzt wurden die Mitgliedsstaaten der Allianz de facto eine Konfliktseite: Auf der Seite der Streitkräfte der Ukraine kämpfen westliche private Militärunternehmen und militärische Instrukteure. Amerikaner übergeben fast im Live-Format Satelliten- und andere Aufklärungsdaten an das ukrainische Kommando, nehmen an der Planung und Umsetzung der Kampfoperationen teil.
Das Regime versucht seinerseits, die Amerikaner und andere Nato-Vertreter noch tiefer in den Konflikt einzubeziehen, wobei damit gerechnet wird, dass ihre Frontalkollision mit der Armee Russlands unvermeidlich wird. Man soll sich an die Provokation am 15. November mit dem Sturz der ukrainischen Flugabwehrrakete in Polen erinnern, die Selenski lügnerisch als russische Rakete präsentieren wollte. Es ist gut, dass Washington und Brüssel genug Vernunft hatten, diesem Trick nicht zu folgen. Aber der Vorfall zeigte, dass das Regime nicht Halt vor etwas machen wird.
Wir warnen weiterhin unsere Opponenten im Westen vor der Gefahr des von ihnen übernommenen Kurses auf die Eskalation der Ukraine-Krise. Mit den Vertretern, die sie in Kiew großzogen, ist das Risiko einer unkontrollierbaren Entwicklung der Situation ziemlich hoch. Es ist wichtig, eine Katastrophe nicht zuzulassen.
Was die Länge des Konfliktes betrifft, ist der Ball auf der Seite des Regimes und dahinten stehenden Washingtons. Sie können zu jedem Zeitpunkt den sinnlosen Widerstand stoppen. Unsere Vorschläge zur Demilitarisierung und Entnazifizierung der vom Regime kontrollierten Gebiete, Beseitigung der von dort ausgehenden Sicherheitsbedrohungen für Russland, darunter unsere neuen Gebiete – Volksrepubliken Donezk und Lugansk, die Gebiete Cherson und Saporoschje, sind dem Feind gut bekannt. Es bleibt nur, sie freiwillig zu erfüllen. Sonst wird die Frage von der Armee Russlands gelöst.
Frage: Die Frage über die Möglichkeit des Einsatzes von Atomwaffen lautete in diesem Jahr besonders akut, darüber sprachen sogar jene, die sich gar nicht für Nachrichten aus der Welt der Politik interessieren. Ist eine Verstärkung dieser Atom-Rhetorik 2023 zu erwarten?
Sergej Lawrow: Diese Frage soll in erster Linie an die Westler gestellt werden. Wir stellen mit tiefer Besorgnis propagandistische Willkür in den USA und im Ganzen im Westen um das Thema Atomwaffe fest.
Auf der einen Seite werden dort ununterbrochen verantwortungslose Spekulationen darüber entfacht, dass Russland angeblich demnächst eine Atomwaffe gegen die Ukraine einsetzen werde. Es folgen Hinweise auf gewisse Aussagen der politischen Führung Russlands. In der Tat gab es keine solchen Erklärungen.
Wir sprechen über ganz Anderes: Der Kurs des Westens auf eine totale Abschreckung unseres Landes ist äußerst gefährlich. Er trägt in sich Risiken des Abrutschens zu einem direkten militärischen Zusammenstoß von Atommächten. Wir warnen gerade davor und wiederholen immer wieder, dass es in einem Atomkrieg keine Gewinner geben kann und er nie entfacht werden soll.
Auf der anderen Seite sind Signale im Atombereich, die vom Westen kommen, ziemlich konfrontativ. Dort ließ man wohl alle Normen der Anständigkeit fallen. Eine bemerkenswerte Aussage machte Liz Truss, die ohne geringste Zweifel während der Wahldebatten sagte, dass sie ziemlich bereit sei, einen Befehl über einen Atomwaffenschlag zu erteilen. Doch weiter ging man in Washington – dort drohten gewisse „nicht genannte offizielle Personen“ aus Pentagon de facto damit, einen „Enthauptungsschlag“ gegen den Kreml zu versetzen, es handelt sich an sich um eine Drohung einer physischen Beseitigung des Chefs des Russischen Staates. Wenn solche Ideen tatsächlich von jemandem entwickelt werden, sollten sie sich sehr gut über die möglichen Folgen solcher Pläne Gedanken machen.
Ich sage sogar nicht über zunehmende Provokationen des Kiewer Regimes. Wladimir Selenski sprach über die Forderung der nuklearen Präventivschläge der Nato-Länder gegen Russland. Das ist auch außerhalb zulässiger Grenzen. Allerdings haben wir von Vertretern des Regimes auch härtere Dinge gehört.
Wir können solche Aussagen nicht ohne Vergleich mit destabilisierenden Elementen der doktrinären Einstellungen der USA lassen. Die Amerikaner „erlaubten sich“ doch unter anderem „Abrüstungsschläge“. Wir berücksichtigen auch die fehlende Dimension der Kriterien, mit denen Washington für sich die Bedingungen für den Atomwaffeneinsatz definiert. Dort spricht man über gewisse „vitale Interessen“, die in der US-Doktrin gar nicht präzisiert werden und wohl bei Bedarf sich auf jede Gegend und Umstände ausdehnen können.
Wir rufen den Westen weiterhin zur maximalen Zurückhaltung in diesem sehr sensiblen Bereich auf. Zur Minimierung der Atomrisiken ist es wichtig, in der Tat Anhänglichkeit an das Postulat über die Unzulässigkeit des Atomkriegs beizubehalten, das von den Ländern der Atom-Fünf in einer gemeinsamen Erklärung vom 3. Januar 2022 bestätigt wurde. Gemäß der im Dokument dargelegten Logik ist es notwendig, jede militärische Konfrontation zwischen Atommächten zu verhindern, denn sie kann zu einer Katastrophe führen.
Wir machten zusätzlich auf diese Basispunkte in unserer Erklärung über die Verhinderung eines Atomkriegs vom 2. November 2022 aufmerksam. Darin wird unter anderem betont, dass Russland für die Bildung einer erneuerten, stabileren Architektur der internationalen Sicherheit auf Grundlage der Gewährleistung der Voraussagbarkeit und globalen strategischen Stabilität sowie Einhalten der Prinzipien der Gleichberechtigung, unteilbaren Sicherheit und Berücksichtigung der jeweiligen Interessen voneinander eintritt.
Frage: Die Beziehungen unseres Landes zur EU sind jetzt auf einem äußerst niedrigen Niveau. Gibt es eine Wahrscheinlichkeit, dass wir uns endgültig gegeneinander verschließen, wobei alle Verbindungen gebrochen werden – humanitäre und wirtschaftliche? Beabsichtigen wir, einen Ständigen Vertreter Russlands bei der EU zu ernennen?
Sergej Lawrow: Unsere Beziehungen zur EU sind jetzt natürlich auf dem niedrigsten historischen Niveau. Die Gründe sind gut bekannt. Nach Beginn der militärischen Spezialoperation wurde in Brüssel, gefolgt nach den USA und der Nato, uns de facto ein Hybrid-Krieg erklärt. Der Chef der EU-Diplomatie Josep Borrell sagte als einer der Ersten, dass Russland auf dem Schlachtfeld geschlagen werden soll.
Wir sehen, wie die Regierungskreise der EU-Länder zum Nachteil der vitalen Interessen und Wohlstand ihrer Staatsbürger vorgehen. Sie folgen fast widerspruchslos dem antirussischen Kurs des US-Hegemons fast bei allen Fragen, und manchmal gehen sie nach vorne. Es gibt hier sehr viele Beispiele. Man soll zumindest das Verbot der USA für die Staaten Europas, mit unserem Land einen Dialog im Energiebereich aufrechtzuerhalten, der seit Jahrzehnten den Europäern präzedenzlosen Wohlstand sicherte, erwähnen.
Natürlich kann es mit solchen Partnern keinen Business as usual geben. Wir beabsichtigen nicht, an geschlossener Tür zu klopfen bzw. gemeinsame Projekte zu initiieren. Die Welt besteht Gott sei Dank nicht aus der EU, wir haben viele Freunde und Gleichgesinnte in anderen Teilen der Welt. Falls und wenn die europäische Seite sich im bitteren Kater nach der jetzigen russophoben Sauferei erwacht und dann nüchtern wird, wenn dort verständliche national ausgerichtete Politiker auftauchen, die die Vorteile einer gleichberechtigten und gegenseitig vorteilhaften Partnerschaft mit Russland verstehen – kann ich Ihnen zusichern, dass es von unserer Seite keine Probleme geben wird. Inzwischen haben wir das, was wir haben. Wir sind Realisten. Wir werden mit den wenigen Europäern weiter arbeiten, die die Freundschaft mit Russland zu schätzen wissen. Wir werden nicht mit Russophoben zusammenarbeiten.
Was die Ernennung des neuen Ständigen Vertreters Russlands bei der EU betrifft, ist es kein schneller Prozess. Im September dieses Jahres kam der neue Leiter der EU-Vertretung nach Russland, er arbeitet. Unter den jetzigen Bedingungen sollte man aus einem realen Umfang der Kontakte vor dem Hintergrund der offen feindseligen Beschwörungen der EU-Anführer über die Notwendigkeit, Russland zu isolieren und zu bekämpfen, ausgehen.
Frage: Ein Dialog mit den USA verwandelte sich jetzt auch in eine Reihe gegenseitiger Vorwürfe, es entsteht der Eindruck, dass zwei Länder buchstäblich nichts zu besprechen haben. Ist das so? Versuchen die Amerikaner, hinter Kulissen, sich mit uns zum Beispiel zum Thema Ukraine, Abrüstung und bei anderen Fragen zu verständigen?
Sergej Lawrow: Die russisch-amerikanischen Beziehungen sind tatsächlich in einem äußerst trüben Zustand. Sie wurden auf Verschulden Washingtons fast eingefroren. Ihr konfrontativer antirussischer Kurs bekommt einen schärferen und umfassenderen Charakter. Es wird objektiv nicht geschafft, mit der Administration von Joe Biden, der als Ziel eine strategische Niederlage für unser Land erklärt, eine normale Kommunikation beizubehalten.
Wir erklären den Amerikanern kontinuierlich, dass eine beabsichtigte Verschlechterung der zwischenstaatlichen Beziehungen nicht unser Stil ist. Doch beim Aufbau eines Dialogs gehen wir unter allen Umständen von dem Prinzip der Gegenseitigkeit aus. Also wir gehen in der Regel nach dem „Auge um Auge“-Prinzip, aber nicht unbedingt symmetrisch vor.
Auf dieser Etappe haben wir nicht vor, irgendwelche Initiativen aufzubringen. Das betrifft zum Beispiel die Besprechung einer möglichen neuen Vereinbarung bzw. Vereinbarungen im Bereich strategische Offensivwaffen sowie gegenseitigen Sicherheitsgarantien. Die Verhandlungen zur letzten Frage wurden von den USA selbst abgelehnt – unter Vorwand der Ukraine-Krise. Wir haben das zur Kenntnis genommen. Dabei halten wir weiterhin am START-Vertrag, dessen Grundprinzipien von Washington verwischt werden, fest.
Bei unserer Planung berücksichtigen wir das Prinzip, das in den Jahren des Kalten Kriegs funktionierte – das Prinzip einer friedlichen Koexistenz der Staaten mit verschiedenen politischen und sozialwirtschaftlichen Systemen. Er kann sich unter neuen geopolitischen Bedingungen eignen.
Angesichts einer besonderen Verantwortung Russlands und der USA als zwei Atomsupermächte für die Schicksale der Menschheit gehe ich davon aus, dass normale Beziehungen zwischen unseren Ländern für alle vorteilhaft wären. Doch angesichts der offen feindseligen Handlungen Washingtons, wird nicht geschafft, wie gewöhnlich Geschäfte zu führen.
Jetzt ist es schwer, etwas über die Umsetzung der vollwertigen bilateralen Kontakte zwischen den außenpolitischen Diensten zu sagen. Wir betonten mehrmals auf verschiedenen Ebenen, darunter auf der höchsten Ebene, dass wir einem konstruktiven Dialog nicht ausweichen, doch für seine Aufnahme müssen Bedingungen geschaffen werden, und eventuelle Treffen nicht formell durchgeführt, sondern mit konkreten Aspekten gefüllt werden. Von Amerikanern kamen keine bedeutenden Ideen dazu.
Unsererseits sind wir bereit, die Sicherheitsfragen sowohl im Kontext der Ukraine als auch in einem breiteren, strategischen Sinne zu besprechen. Wir werden warten, bis Washington die Nachteile seines jetzigen Kurses und die Alternativlosigkeit des Aufbaus der Beziehungen mit uns auf gegenseitig respektvoller, gleichberechtigter Grundlage bei unbedingter Berücksichtigung der legitimen russischen Interessen begreift.
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