Voltaire Netzwerk: Thierry Meyssan, Ihr neues Buch Sous nos yeux [Vor unseren Augen] ist gerade 10 Jahre nach dem vorherigen erschienen. Was ist das Thema, und warum haben Sie so lange gewartet?

Thierry Meyssan: Vor 16 Jahren prangerte ich den Staatsstreich vom 11. September an. Was ich damals spürte, hat tatsächlich stattgefunden: die Verantwortlichen für diese Operation erstellten einen permanenten Ausnahmezustand in den Vereinigten Staaten und haben sich an einer Reihe von imperialistischen Kriegen beteiligt. Viele Leute haben von diesem Buch nur die kurze Passage über das Attentat auf das Pentagon aufgegriffen, aber es ist ein Buch der politischen Wissenschaft, das man besser hätte ernst nehmen sollen.

Ich verstehe nicht, wenn mich Leute fragen ob ich immer noch „glaube“, was ich im Jahr 2002 geschrieben habe: Ich sehe es, ich erlebe es jeden Tag. Die politischen Wissenschaften sind empirische Wissenschaften: Man kann zwischen richtigen und falschen Hypothesen nur unterscheiden, wenn man ihre Folgen studiert. Und die Zeit hat mir Recht gegeben.

Es ist mehr als ein Jahr her, dass Frankreich in Ausnahmezustand gesetzt wurde, während diese Kriege, die den Erweiterten Nahen Osten verwüstet haben, mehr als 3 Millionen Tote gefordert haben. Sie verbreiten sich jetzt in Europa mit Migrationsströmen und terroristischen Anschlägen.

In Sous nos yeux wollte ich auf ihre Planung zurückkommen. Erklären, wer sie entschieden hat, wie und warum. Der Westen geht dieses Phänomen nur in einer sequenziellen Weise an. Für ihn gibt es in der Regel keine Verbindung zwischen dem was in Afghanistan, im Irak, in Tunesien, Ägypten, Libyen, Jemen und Syrien passiert. All diese Völker wollten Demokratie, aber keines konnte sie einrichten.

Hinter diesen diskontinuierlichen Erscheinungen gibt es aber einen globalen Plan, der zuerst den Erweiterten Nahen Osten getroffen hat und der sich jetzt bis zum Westen ausdehnt.

Voltaire Netzwerk: In der Tat, Ihr Buch erscheint gerade im Moment, wo der Ausdruck "post-Wahrheit" in den Massenmedien besonders beliebt ist (um ausschließlich die Pseudo-Propaganda von Putins Russland und die so genannten Lügen von Trump zu verurteilen), und wo sich die selbsternannte „atlantische Ref[v]erenzzeitung" [Wortspiel über Le Monde, „le journal de référence“, das zum „Journal de révérence“ (Verbeugung) wurde BdÜ] rühmt, irgendwie das MiniVer (Ministerium der Wahrheit) mit seinem unbeschreiblichen Decodex zu sein... Ihr Buch zeigt, wie weit die Werte verwechselt wurden, und wie wir mehr denn je in einer wahrhaft Orwellschen Welt leben. Gibt es noch Hoffnung?

Thierry Meyssan: Im Westen kommen wir gerade mit der Anti-Trump-Kampagne in die erste Phase der Propaganda selbst. Denn dies ist das erste Mal, dass das System die Funktion angreift, die es als die oberste betrachtet. Bei dieser Gelegenheit erscheint ein Widerspruch zwischen den Techniken der "Public Relations" und der "Propaganda". Donald Trump ist in der Tat ein großer Spezialist der ersten und ein Opfer der zweiten.

Eine der Eigenschaften der Propaganda ist, sich dem kritischen Geist zu substituieren. Als wir in der Schule waren, glaubten wir nicht, dass ein Text dank seines Autors mehr Wert hatte, sondern nur wegen seinem Inhalt. Wir lernten, kritisch zu lesen. Die Demokratie beruht auf diesem Prinzip: Wir müssen jedem einzelnen Bürger die gleiche Aufmerksamkeit widmen, während das Ancien Regime nur dem Adel und dem Klerus das Wort erteilte (man würde heute sagen: den Politikern und Journalisten).

Der Decodex bewirkt genau das Gegenteil. Er qualifiziert a-priori einen Artikel als richtig oder falsch, je nach seinem Autor. Das ist intellektuell töricht und zutiefst antidemokratisch.

Es ist Ihnen sicher nicht entgangen, dass der Decodex sowohl an die durch eine geheimnisvoll geschaffene NRO, First Draft, eine Vereinbarung von Medien gebunden ist, als auch an den Militärstab der Europäischen Union. Le Monde, der in der Tat diesen Decodex auf eigene Initiative unternahm, ist sehr weit davon entfernt, ein einfaches Presseorgan zu sein. Und um Ihre Frage zu beantworten, wie während des zweiten Weltkriegs, gibt es keine Hoffnung auf die Medien im Allgemeinen, sondern es gibt nur Hoffnung, solange wir fähig sind, zu widerstehen.

Voltaire Netzwerk: Die intensive Nutzung von Propaganda, um einen Krieg populär zu machen, ist sicherlich nicht neu, aber mit Libyen und Syrien scheint man seltene Höhen erreicht zu haben, außer den Höhepunkt des ersten Weltkrieges, wie es unter anderem Patrick Cockburn vor kurzem auf CounterPunch erwähnt hat.

Thierry Meyssan: Ja, aber dieser Vergleich gilt nur für das Vereinigte Königreich (oder genauer gesagt für seine Hauptstadt) und die Vereinigten Staaten, deren Gebiet nicht vom Krieg betroffen war und die die moderne Propaganda beherrschten. Damals wussten weder Russland, noch Deutschland noch Frankreich, was diese Techniken sind.

Die erste Neuheit ist der Platz, den heute der Rundfunk einnimmt, und häufiger als man vielleicht denkt, die Fiktionsbilder, die als authentische Geschichten in den Nachrichten präsentiert werden. Ich denke zum Beispiel an Sequenzen der angeblichen "grünen Revolution" in Iran oder an andere, über den so genannten Einzug der Rebellen auf dem grünen Platz in Tripolis, in Libyen. Diese Mischung aus Fiktion und Wahrheit hat mit der Verleihung eines Dokumentarfilm-Preises durch Hollywood an Al-Qaida gesiegt, für die Inszenierung der Weißen Helme in Aleppo.

Die zweite Neuheit ist die Schaffung einer internationalen Koordination zwischen den verbündeten Regierungen, um ihre Propaganda abzustimmen. Es begann mit dem gemeinsamen Office of Global Communications vom Weißen Haus und Downing Street. Heute ist es das StratCom Task Force von der Europäischen Union und das strategische Kommunikations-Center der NATO.

Voltaire Netzwerk: Jeder weiß, dass "in Kriegszeiten die Wahrheit das erste Opfer" ist, jeder erinnert sich mindestens einiger Manipulationen und Lügen, die in der Vergangenheit einstimmig von der Presse weitergeleitet wurden. Und doch fällt jeder immer wieder darauf herein! Man hat manchmal den Eindruck, dass "je größer die Dinge, umso leichter werden sie geschluckt": es genügt wenn die meisten Medien davon sprechen. Die Journalisten (und Politiker) sind dennoch nicht alle dumm oder korrupt: wie erklären Sie diese kollektive Blindheit, diese einstimmige Trance der Medien und Politiker?

Thierry Meyssan: Die Presse hat sich in den letzten Jahren tiefgreifend verändert. Die Zahl der Journalisten in den Vereinigten Staaten sank um zwei Drittel seit dem 11. September. In der Tat gibt es dort fast keine Journalisten mehr, sondern viele Redaktoren, die die Depeschen der Agenturen für unterschiedliche Zielgruppen anpassen. Das ist überhaupt nicht dasselbe.

Danach überwog die kommerzielle Logik weitgehend das Anliegen zu informieren. Gegen die München-Charta zu verstoßen, welche die Rechte und Pflichten der Journalisten festlegt, wurde für die meisten von ihnen Gang und Gebe, ohne die geringste Ablehnung hervorzurufen, weder in der Profession, noch in der Öffentlichkeit. Zum Beispiel, niemand protestiert, wenn die Presse Konten von einer Bank oder einer Anwaltskanzlei ausstrahlt, angeblich um Betrüger zu entdecken; oder wenn eine Zeitung einen Gerichtswortlaut veröffentlicht, der geheim gehalten werden soll, um, so scheint es, die Schlechtigkeiten eines Beschuldigten zu enthüllen; aber was ist mit der Vertraulichkeit dieser Berufe? Wollen Sie wirklich, dass die Presse Ihre Bank-Bewegungen und Ihren Scheidungsfall offenlegt? wollen Sie als schuldig bezeichnet werden nach einer Anhörung vor einem Richter? Also warum akzeptieren Sie es, wenn es um bekannte Personen geht?

Schließlich sind die Presse und ihre Leser in der Regel nicht mehr daran interessiert, die Welt zu verstehen und sind böse geworden. Vor zwanzig Jahren schrieben mir meine Leser, diesen oder jenen zu kritisieren, ohne seine Verdienste zu erwähnen. Heute ist es umgekehrt, sie beschuldigen mich, die eine oder andere Persönlichkeit zu loben, aber ihre „Versager“ zu verschweigen.

Es ist so, weil wir diese Drift akzeptiert haben, dass wir leichtgläubig geworden sind und nicht umgekehrt. Die politischen Entscheidungsträger haben unser kollektives Verhalten angenommen. Wenn man also Präsident Hollande fragt, warum er diese oder jene außenpolitische Entscheidung getroffen hat, antwortet er, dass er auf die Erwartungen der Presse reagieren musste. Das heißt, er macht seine Politik nicht nach Beratung durch seine Verwaltung und Diskussionen mit seinen engsten Beratern, sondern indem er die Zeitung liest.

Man ist an einem kreisförmigen System angelangt: Journalisten folgen den Politikern, welche ihrerseits den Journalisten folgen. Niemand hat Kontrolle über die Realität.

Voltaire Netzwerk: Viele Werke haben über den "Arabischen Frühling" geschrieben; fast alle bieten eine vereinfachende Lektüre von den Geschehnissen, die sich spontan abspielen (der berühmte "Wind der Freiheit" der die herrschenden Diktatoren hinwegfegt), der romantischen oder sogar naiven Vorstellung der Pariser entsprechend, von der französischen Revolution. In diesem Zusammenhang verwundert Ihr Buch – milde gesagt! Weshalb ist Ihre Analyse gerechtfertigt, oder mit anderen Worten, warum ist sie nicht einfach eine "Verschwörungstheorie"?

Thierry Meyssan: Erstens, während der französischen Revolution hat der König verraten, indem er die Hilfe der ausländischen Armeen suchte, um sein Volk zu unterdrücken. Er wurde daher abgesetzt. Aber in keinem der sieben Länder, wo der Arabische Frühling stattfand, wurde das Staatsoberhaupt von seinem Volk abgesetzt. Wirklich seltsam, nicht wahr?

Dann haben wir viele Zeugnisse und mehrere Dokumente, die die Vorbereitung dieser Ereignisse durch die Angelsachsen seit 2004 belegen. Da es immer eine Verzögerung zwischen der Entscheidungsfindung, der Bereitstellung der notwendigen Teams und der Realisierung des Projektes gibt, und da wir kein Gedächtnis haben, waren wir überrascht durch das, was man uns doch bekannt gegeben hatte.

Verstehen Sie mich nicht falsch: es haben Protestbewegungen in jedem dieser Länder stattgefunden, aber in keinem war es eine Revolution die darauf abzielte, das Staatsoberhaupt zu stürzen und die Gesellschaft zu demokratisieren. Wir projizieren unsere Fantasie auf Ereignisse, die einer anderen Natur sind.

Die "Arabischen Frühlinge" sind nur die Wiederholung des "großen arabischen Aufstandes von 1916": eine Bewegung, die jeder damals für spontan hielt. Jedoch stimmen heute alle Historiker überein, wie sie komplett von den Briten manipuliert und gestaltet wurde. Außer, dass es dieses Mal keine romantische Figur wie Lawrence von Arabien gibt, um wie er an die Versprechungen seiner Vorgesetzten in London zu glauben. All dies wurde mit einem perfekten Zynismus ausgeführt.

Voltaire Netzwerk: Thierry Meyssan, diejenigen die Ihnen folgen und Sie regelmäßig lesen, wissen, dass Sie ein Mann des Friedens sind. Sie sind auf dem Boden des Konflikts seit mehr als 6 Jahren, Ihr Blick und Ihre Analysen sind wertvoll und verdienen mindestens rechtliches Gehör; Jedoch Sie erzählen, wie Sie manchmal auch aktiv bei Ereignissen (sowohl in Syrien als in Libyen, Iran und Russland) mitgemacht haben, daher diese Frage: ohne Sie anzuklagen "der Freund der Mullahs und der schlimmsten Diktatoren" zu sein - das wäre eben dämlich - könnten wir nicht berechtigterweise denken, dass Ihr Kampf gegen den Imperialismus Sie blind macht? Dass Sie nicht "objektiv sind "? Oder dass Sie für die Propaganda der Gegenseite anfällig sind? Dass Sie sogar davon ein Vektor sind!

Thierry Meyssan: Ich frage mich jeden Tag und ich hoffe auch Sie, der Sie jenseits der Grenze leben, Sie fragen sich jeden Tag für sich. Wo immer Sie leben, werden sie immer von Ihrer Umgebung beeinflusst. Ihre Situation in Europa ist jedoch nicht besser als meine hier.

Jeder von uns muss sich bemühen objektiv zu werden. Es ist nicht spontan. In einem Konflikt müssen wir versuchen zu verstehen, wie unsere Gegner die Lage analysieren. Nicht um sie besser zu bekämpfen, sondern um möglicherweise einander näher zu kommen.

Das sei vorausgesetzt, und da man auch weiß, dass die politische Verantwortung darin besteht, dauerhaft die wenigst-schlechteste Lösung zu wählen, behaupte ich nicht, Heiligen gedient zu haben, aber wohl den Besten. Deshalb habe ich nicht George W. Bush, Barack Obama gedient, die den Erweiterten Nahen Osten zerstört haben, nicht Nicolas Sarkozy, der Libyen zerstört hat oder François Hollande, der Syrien zerstört hat. Im Gegenteil, ich habe für Hugo Chávez gearbeitet, der sein Volk dem Analphabetismus entrissen hat, für Mahmoud Ahmadinedschad, der den Iran industrialisiert hat, für Muammar Gaddafi, der der Sklaverei in Libyen ein Ende gesetzt hat und für Baschar Al-Assad, der die syrische arabische Republik vor den Dschihadisten-Horden gerettet hat. Niemals hat man mich aufgefordert, etwas zu tun wofür ich erröten könnte, und wenn man mich darum gebeten hätte, hätte ich es ausgeschlagen.

Voltaire Netzwerk: Wenn man Sie liest, wird man wirklich schwindlig, da alles was Sie schreiben völlig anders ist als die Erzählung, die davon im Westen gemacht wird. Wie ist das möglich?

Thierry Meyssan: Im Westen gibt es keine autoritären Regime, aber die Propaganda ist jeden Tag am Werk. Sie wird nicht von oben angeordnet, sondern von unten erwartet. Sie triumphiert nur, weil wir die Wahrheit nicht wissen wollen; weil wir die Verbrechen, die in unserem Namen begangen werden nicht kennen wollen. Wir sind wie Straußvögel, die ihre Köpfe im Sand verstecken.

Der beste Beweis dafür ist der Präsidentschaftswahlkampf in Frankreich. Bis heute hat praktisch keiner der Hauptanwärter gesagt, was er als Präsident tun würde. Alle erklären, was ihr Ministerpräsident in wirtschaftlichen Angelegenheiten tun sollte, aber keiner wagt von der Verantwortung des Präsidenten, Funktion die sie anstreben, zu sprechen: die Außenpolitik und die Verteidigung des Vaterlandes. Jedoch zur Zeit der Globalisierung ist es einfach unmöglich, wirtschaftliche Ergebnisse zu erzielen, ohne vorher das Land auf der internationalen Bühne neu zu positionieren. Aber es gibt nur wenige, die es wagen, die internationalen Beziehungen zu analysieren, das Thema wurde Tabu.

Voltaire Netzwerk: Die Terroranschläge von Daesch und Al-Kaida in Frankreich in den letzten 2 Jahren haben den medialen Diskurs ein wenig verändert, vor allem nach dem Gemetzel des 13. November in Paris; plötzlich gaben die Medien den dissonanten Stimmen hier und da ein wenig Echo - vorher nicht hörbar -, die die guten Gründe der französischen Politik in Libyen und Syrien in Frage stellen, und auch die besonderen und privilegierten Beziehungen, die unsere Politiker mit Katar und Saudi-Arabien pflegen. Und dann sind wir wieder sehr schnell zum Status Quo Ante zurückgekommen: "Baschar", der Henker, muss gehen...

Thierry Meyssan: Wieder einmal nehmen Sie Dinge verkehrt. Der Generaldirektor der Inneren Sicherheit, Patrick Calvar, sagte vor einem Kongress-Ausschuss, dass er wusste, wer die Attentate gesponsert hatte, aber dass er sie nicht nennen würde. Tatsächlich ist es nicht er, der es sagen sollte, sondern der Präsident der Republik, François Hollande.

Aber wie ich in „Sous nos yeux“ erkläre, haben Alain Juppé und François Hollande geheime internationale Verpflichtungen akzeptiert, die sie nicht halten konnten. Wegen diesem Betrug hat Recep Tayyip Erdoğan dieses Attentat und das von Brüssel gesponsert, die er beide auch schon im Voraus begrüßt hatte. Diese beiden Operationen wurden von zwei verschiedenen Kommandos ausgeführt, mit Ausnahme von Mohamed Abrini, vom britischen MI6, der an beiden teilgenommen hat.

Unsere aufeinanderfolgenden Regierungen haben so erbärmliche Entscheidungen getroffen, dass sie nicht wagen, sie zuzugeben. Ich habe diese Situation in meinen Artikeln behandelt, aber nur durch die Blume. Diese Situation kann nicht länger andauern. Ich kann nicht mehr ertragen, dass unsere Landsleute im Bataclan und auf den Café-Terrassen sterben. Ich habe dieses Buch geschrieben, um die schmutzige Wäsche zu waschen, alle schmutzige Wäsche, und damit wir uns ändern.

Voltaire Netzwerk: Mit diesem Buch gehen Sie in die zwar nahe Vergangenheit zurück, die aber scheinbar schon vergangen ist: Ich denke an die extravagante Friedens-Rede von Dominique de Villepin bei den Vereinten Nationen im Jahr 2003, und an die illegale militärische Aktion gegen Libyen im Jahr 2011. Wie haben in Frankreich in so kurzer Zeit (8 Jahre) unsere "Eliten" zum totalen Triumph der Thesen der US-Neokonservativen und ihrer „Selbst-erfüllenden Prophezeiung“ des "Zusammenstoß der Zivilisationen" und zum "Krieg ohne Ende gegen den Terrorismus" beitragen können?

Thierry Meyssan: Erstens gibt es aus meiner Sicht keine Prophezeiung: den "Zusammenstoß der Zivilisationen" und den "Krieg gegen den Terror" hat es nie gegeben. Es gibt nur einen Krieg eines Imperiums und seiner Verbündeten im Kampf gegen die Völker des Erweiterten Nahen Ostens und des Donbass. Die Neuheit ist, dass das Imperium nicht mehr durch das Weiße Haus regiert wird, sondern durch den tiefen Staat, von dem wir mehrere Führer identifiziert haben.

Dann ist die Ausrichtung der europäischen Eliten auf die Obama-Administration ein klassisches Phänomen der Zusammenarbeit mit dem Stärkeren. Sie geht heute gegen die Trump-Administration weiter. So dass die Europäer in den Dienst der amerikanischen Opposition geschlittert sind.

Voltaire Netzwerk: A propos: Sie machen einen bemerkenswerten Unterschied zwischen den Präsidentschaften von Sarkozy und Hollande: letzterer hat den Krieg in Syrien fortgeführt, den der erste sicherlich begonnen hatte, aber später wegen Pragmatismus eingestellt hatte...

Thierry Meyssan: Ja, obwohl Präsident Sarkozy sich mit Bedacht aus Syrien zurückzog, hatte er zuvor die Kämpfe in der Goldküste und in Libyen bis zu ihrem Ende weitergeführt. Aber das wichtigste ist woanders. Die Sarkozy-Regierungen haben sich über die französische Beteiligung an dem britischen Plan des "arabischen Frühlings" gespalten.

Also sollten wir diejenigen würdigen, die Präsident Sarkozy davon überzeugt haben, Frieden zu machen. Da ist es aber, wo es kompliziert wird: sie wurden fast alle vom System bestraft. Während Alain Juppé von den Medien bejubelt wird, ist der Präfekt Édouard Lacroix physisch eliminiert worden, Claude Guéant wurde zu Gefängnis verurteilt, Bernard Squarcini und François Fillon werden von der Justiz verfolgt. Nur Gérard Longuet ist gut davongekommen. Verstehen Sie bitte, dass diese Art von Beispiel alle diejenigen abkühlt, die heute den Krieg beenden könnten.

Voltaire Netzwerk: Ihr Buch beginnt mit der folgenden Resolution der Vereinten Nationen: "Alle Staaten müssen sich enthalten, subversive bewaffnete Aktivitäten oder Terroristen zu organisieren, zu helfen, zu schüren, zu finanzieren, zu fördern oder zu tolerieren, um mit Gewalt das Regime eines anderen Staates zu ändern, sowie um in die Machtkämpfe in einem anderen Staat einzugreifen." Diese relevante Erinnerung an die Basis des Völkerrechts scheint von den meisten unserer Politiker, Journalisten und Medien, die ihre Worte aufnehmen ohne sie jemals zu hinterfragen, völlig ignoriert zu werden.

Thierry Meyssan: Dieses Zitat ist von der Resolution entnommen, die die Bedeutung der Charta der Vereinten Nationen im Detail beschreibt. Es ist ein Referenztext, den alle Diplomaten und Fachjournalisten natürlich studiert haben.

Ihn vergessen, zeigt, dass man nicht mehr gewillt ist, die Grundsätze des Völkerrechts zu verteidigen. Wir leben heute in einer scheinheiligen Welt, wo Politiker und Beamte der Vereinten Nationen sich auf die Charta berufen, aber sie dauerhaft missbrauchen. Wie ich in diesem Buch detailliert zeige, werden die aktuellen Kriege im Nahen Osten und im Donbass politisch und logistisch von der Nummer 2 der Organisation der Vereinten Nationen geführt: von Jeffrey Feltman.

Voltaire Netzwerk: In diesem Buch, im Gegensatz zu den vorangegangenen, haben Sie beschlossen, nicht die Quellen anzugeben und auch keine Fußnoten. Warum diese Wahl, die Sie der Kritik Fabeln zu erzählen aussetzen wird, die sicher gegen Sie geltend gemacht werden wird? Ist es eine Wette auf die Intelligenz der Leser?

Thierry Meyssan: Im Jahr 2002, im Buch L’Effroyable imposture 1 [11. September 2001: Der inszenierte Terrorismus] hatte ich die offiziellen Quellen aus dem Internet zitiert. Zu dieser Zeit machte man es noch nicht so. Nur wenige Leute hatten übrigens schon Zugang zum Internet. Ich wurde kritisiert, mich nicht auf die einzige ernstzunehmende Quelle zu stützen: das Papier. Im Jahr 2007 in L’Effroyable imposture 2 (über den Krieg, der gerade gegen den Libanon stattgefunden hatte), habe ich Hunderte von Nachrichtenagentur-Depeschen und offizielle Berichte zitiert. Da man mir nichts vorwerfen konnte, hat die Presse das Buch einfach ignoriert. Dieses Mal habe ich meine Quellen nicht zitiert. Die Leute, die ich in Frage stelle, werden vielleicht leugnen und mich der Konfabulation beschuldigen. Wenn sie öffentlich darüber diskutieren wollen, bin ich bereit, ihnen zu antworten.

Wissen Sie, zwischen 2002, 2007 und 2017 habe ich viel erlebt, viel gelernt und bin reifer geworden. Niemand in Frankreich hat an den Ereignissen so sehr teilgenommen wie ich.

Voltaire Netzwerk: Vor 10 Jahren, erhielt Ihr Buch L’Effroyable Imposture 2. Manipulations et désinformations keine einzige Rezension in den Medien. Ihr Image war bei den Buchhändlern derart schlecht - auch sie waren Opfer der Propaganda - dass sie es mit Zurückhaltung begrüßten, indem sie es nicht sichtbar ins Schaufenster stellten (wie jede Neuheit von einem Bestseller-Autor) sondern unsichtbar hinten im Regal, oder sogar völlig versteckt vor der Öffentlichkeit, in der Reserve (wo die Lager aufbewahrt werden). Es war aber sehr gut verkauft worden. Angesichts des fast hysterischen Klimas, das "Baschar", Putin und Trump umgibt, ist es klar, dass es nicht besser empfangen werden wird: Können wir optimistisch sein, was den Erfolg seiner Enthüllung betrifft?

Thierry Meyssan: Es ist eine andere Zeit. Vor ein paar Jahren glaubten die meisten von uns alles, was von Le Monde gesagt wurde. Heute stellt die Mehrheit die Widersprüche der selbstgerechten Rhetorik in Frage.

Beispielsweise nehmen wir an, dass Al-Kaida eine Gruppe von anti-westlichen Fanatikern wäre, die die Anschläge vom 11. September begangen hätten, wie ist es möglich, dass man von General Carter Ham (Kommandant des AfriCom) verlangt hat, sich auf Al-Kaida in Libyen zu stützen - was ja seinen Protest ausgelöst hat und das Ende seiner Mission -? Warum hat Laurent Fabius die arabischen Staaten unterstützt, warum hat Al-Qaida, ihm zufolge, "einen guten Job" in Syrien gemacht? Warum hat Frankreich Al-Qaida in Syrien Munition geschickt?

Wir können also hoffen, dass sie einzeln, die einen nach den anderen, die Franzosen im Allgemeinen - und so auch die Buchhändler – überdenken werden, was sie seit dem Anfang zu wissen glaubten. Wenn die Tatsachen anscheinend inkonsequent sind, auf welchem Niveau befindet sich ihre Logik?

Voltaire Netzwerk: Thierry Meyssan, vielen Dank für Ihre Zeit und noch mehr für dieses außergewöhnliche Buch, das ich Ihren Lesern empfehle und sie einlade, es so weit wie möglich um sie herum zu verbreiten. Ein letztes Wort zum Abschluss?

Thierry Meyssan: Jeder muss sich jetzt positionieren, angesichts dessen, was im Erweiterten Nahen Osten begonnen hat. Es hat in fernen Ländern begonnen, aber es kommt jetzt auf uns zu. Die Attentate einerseits, die Kriegs-Propaganda andererseits, sind ja schon da. Und wenn wir uns weigern, die Wahrheit zu erkennen, werden wir durch die Kräfte zermalmt werden, denen wir weiterhin als Verbündete dienen. Je mehr wir warten, desto schwieriger wird es, unsere Freiheit bei uns zu verteidigen.

Übersetzung
Horst Frohlich