In allen Kriegen leiden beide Seiten. Dieses Foto wurde in der Ukraine aufgenommen, aber es hat nicht die gleiche Bedeutung, wenn es im Westen oder in Neurussland ist. Man kann nicht und soll nicht beurteilen, wer Recht hat, wenn man Menschen leiden sieht. Während des Zweiten Weltkriegs war das Leid der Opfer der Bombenangriffe auf Dresden, London, Tokio oder Le Havre das gleiche. Das sagt uns nicht wer Recht hatte, die Achsenmächte oder die Alliierten.

Der Konflikt zwischen denen, die eine "Welt auf der Grundlage von Regeln" befürworten, und denen, die eine Rückkehr zu einer "Welt auf der Grundlage des Völkerrechts" befürworten, geht weiter. Er begann mit der russischen Militärintervention in der Ukraine und wird Jahre dauern.

Die militärische Lage vor Ort ist blockiert, wie immer im Winter in dieser Region der Welt. Die Befürworter einer "regelbasierten Welt" weigern sich immer noch, die Resolution 2202 des UN-Sicherheitsrates umzusetzen, während die Befürworter einer "Welt, die auf internationalem Recht basiert", eine spezielle militärische Operation durchführen, um sie umzusetzen. Am Ende weichen sie allmählich davon ab und stabilisieren die Situation der Bevölkerung von Neurussland.

Der Übergang von einem Bewegungskrieg zu einem Stellungskrieg ermöglichte es jedem Protagonisten, über die Gründe nachzudenken, die ihn in die Schlacht trieben. Von nun an stehen sich nicht mehr zwei Visionen internationaler Beziehungen gegenüber, sondern zwei Menschenbilder.

Unter den Kiewer Truppen muss man die "integralen Nationalisten", die immer leidenschaftlich kämpfen, von den Berufssoldaten und Bürgern unterscheiden, die zu diesem Anlass mobilisiert wurden. Erstere sind ideologisch ausgebildete Leute, die das Töten von Russen als heilige, uralte Pflicht betrachten. Sie beziehen sich auf die Schriften von Dmytro Donzow und das Exempel von Stepan Bandera. Der erste war Treuhänder des Reinhard-Heydrich-Instituts in Prag und als solcher einer der Konstrukteure der " Juden- und Zigeunerfrage", der zweite war der Führer der ukrainischen Kollaborateure des Nationalsozialismus gegen die Sowjets. Die andere Gruppe der Kiewer Soldaten, die zu Beginn der russischen Intervention zwei Drittel von ihnen stellten, hat allen Mut verloren. Sie stellen fest, dass die Waffen aus dem Westen den "integralen Nationalisten" gegeben werden, und nicht ihnen. Sie gelten als Kanonenfutter und erleiden sehr schwere Verluste. Die sozialen Netzwerke sind voll von Videobotschaften von Einheiten, die gegen ihre Offiziere protestieren. Im Herbst hatte es eine erste Welle der Unzufriedenheit gegeben. Diese ist die zweite. Wenn sie auch dachten, ihre Heimat gegen einen Eindringling zu verteidigen, wissen sie jetzt, dass ihr Land in den Händen einer Clique ist, die Bibliotheken gesäubert, die Kontrolle über alle Medien des Landes übernommen, 13 politische Parteien und die orthodoxe Kirche verboten und schließlich ein autoritäres Regime errichtet hat. Letzte Woche sagte ihnen der ehemalige Kommunikationsberater von Präsident Selenskyj, Oberst Oleksij Arestovich, dass die Ukraine den falschen Kampf führe und sechs Millionen ihrer Bürger zu Unrecht als "russische Agenten" betrachte. Sie wissen, dass die meisten Journalisten verhaftet wurden und die meisten Anwälte ins Ausland geflohen sind. Sie fühlen sich daher sowohl vom russischen Militär als auch von ihrer eigenen Regierung bedroht. Die zahlreichen Korruptionsskandale, die letzte Woche ans Licht kamen, bestätigen ihnen, dass sie nur Schachfiguren zwischen den Vereinigten Staaten und Russland sind.

Auf der russischen Seite ist es umgekehrt: Die Berufstruppen, die zu Beginn der Spezialoperation eingesetzt worden waren, gehorchten, ohne zu verstehen, warum der Kreml sie in die Ukraine schickte, in die Region, in der ihre Heimat einst entstand. Die russische Bevölkerung fürchtete eine Rückkehr der Massaker der Vergangenheit. Nach und nach aber beruhigten sich die Dinge. Die russischen Bourgeois-Bohème flüchteten ins Exil. Ich war sehr überrascht, als ein russischer Freund mir dazu sagte: "Die wären wir endlich los!" Er schien sich keine Sorgen über ihre Flucht zu machen, sondern erleichtert, sich ihnen nicht mehr stellen zu müssen. Die Bevölkerung, die von den westlichen Maßnahmen gegen ihre Künstler und gegen ihren vergangenen Ruhm sehr schockiert war, erkannte, dass die Ukraine nur ein Vorwand für etwas anderes ist. Sie war auch von der Anpassung der Bevölkerungen der Europäischen Union an Washington überrascht. Es ist in ihren Augen ein Krieg gegen ihre Zivilisation, ein Krieg gegen das Erbe von Tolstoi und Puschkin, und nicht gegen die Politik von Präsident Putin. Dieses stolze Volk, das immer bestrebt ist, seine Fähigkeit zu prüfen, seine Mitbürger und seine Ehre zu verteidigen, erkennt betrübt die Überheblichkeit der westlichen Bevölkerung, ihr Gefühl, nicht dem Guten zu dienen, sondern das Gute zu verkörpern.

Die politischen Argumente, die Präsident Putin im Dezember 2021 vorbrachte, als er seinen Entwurf eines bilateralen Abkommens zwischen den USA und Russland über Sicherheitsgarantien [1] veröffentlichte, sind überholt. Es ist kein Krieg mehr, um Interessen zu verteidigen. Wenn die russischen Protagonisten ihren Kampf nur ihrem Überleben gleichsetzen, interpretiert der Westen den Konflikt nicht so. Für ihn werden die Russen von der Propaganda ihres Regimes in die Irre geführt. Sie kämpfen, ohne es zu wissen, für die Wiederherstellung der Größe des Zarenreiches oder der Sowjetunion.

Diese Art von Konflikt ist äußerst selten. Man denke an den, in dem Rom Karthago gegenüberstand, und der mit der Zerstörung aller Überreste der karthagischen Zivilisation endete. Bis zu dem Punkt, dass wir heute fast nichts mehr über sie wissen. Allenfalls wissen wir, dass sie von Leuten aus Tyrus (dem heutigen Libanon, Hochburg der Hisbollah) erbaut wurde und dass ihr Anführer Hannibal in Damaskus und anderen syrischen Städten vergeblich Zuflucht suchte, als seine Stadt vernichtet wurde. Wir wissen auch, dass Karthago sich in guter Harmonie mit seinen Nachbarn und Partnern entwickelt hatte, während Rom dieses Reich gewaltsam eroberte. Ich hatte diese geschichtliche Parallele bereits bei dem Krieg gegen Syrien hergestellt, als Russland intervenierte. Die Parallele wird immer offensichtlicher. Die beiden Blöcke haben nichts mehr gemeinsam.

Im Westen werden die Ereignisse in der Ukraine als Krieg zwischen den Vereinigten Staaten und Russland empfunden. Die "integralen Nationalisten" sind sicher, nicht jenem zu widerstehen, den sie für den Eindringling halten, sondern ihn heute oder im "letzten Kampf" zu besiegen. Das ist ihr Schicksal, denken sie. Aber wenn man die mystischen Wahnvorstellungen von Dmytro Donzow beiseitelässt, wie kann man dann glauben, dass 40 Millionen Ukrainer 140 Millionen Russen besiegen könnten, wohl wissend, dass letztere Waffen haben, die zwanzig Jahre moderner sind als die des Westens?

Die Mitglieder der Ramstein-Gruppe, d. h. in der Praxis die Vereinigten Staaten und die Europäische Union, haben bereits mehr als 250 Milliarden Dollar für diesen Krieg ausgegeben, das heißt, so viel in einem Jahr wie in den zehn Jahren Krieg gegen Syrien. Wenn man die beiden Konflikte vergleicht, bemerkt man, dass Russland völkerrechtlich in beiden Fällen Recht hat, während die Vereinigten Staaten eine breitere Koalition gegen Syrien zusammengestellt hatten, aber in der Ukraine ihre Verbündeten deutlich stärker einbezogen haben.

Im Gegensatz zu Hannibal hat Präsident Putin nicht die Absicht, die Hauptstadt seines Gegners, Washington, einzunehmen. Er ist sich seiner militärischen Überlegenheit bewusst und wird die Bevölkerung des Westens nicht entfremden, indem er ihnen den Krieg bringt, außer vielleicht gegen ihre "Eliten" im Foreign Office und im Pentagon.

Übersetzung
Horst Frohlich
Korrekturlesen : Werner Leuthäusser

[1Vertragsentwurf zwischen den USA und Russland über Sicherheitsgarantien“, Anti-Spiegel.ru , Voltaire Netzwerk, 17. Dezember 2021.