Feier in Jerewan zum Gedächtnis des Völkermords in Armenien

In diesem Artikel werde ich nicht die Frage der Wiedergutmachung behandeln, die mir die Debatte zu beschmutzen scheint, sondern einzig die Art, wie den Verbrechen gegen die Menschlichkeit Widerstand entgegengesetzt werden muss. Ich werde den Begriff des Genozids in seiner ursprünglichen Bedeutung anwenden, wie sie von Raphael Lemkin als „Zerstörung einer Nation oder einer ethnischen Gruppe“ entwicklet wurde [1].

Die Jahrhundertfeier zum Gedächtnis des Völkermords an den nichtmoslemischen Türken hat zu einem Festival der Heuchelei geführt. Während einige Staaten das Gedenken an die Opfer in Jerewan begingen, zeigten andere ohne Scham ihr wahres Gesicht.

Sultan Abdülhamid II. wollte eine homogene islamistische Türkei schaffen. Dafür ließ er die nichtmoslemische Bevölkerung vertreiben oder umbringen.

- Zuerst die Türkei, deren Ahnen das Verbrechen begingen. Präsident Erdoğan hatte hier die Gelegenheit, diese sehr alte Sache, für die er keinerlei Verantwortung trägt, zu bekennen. Damit hätte er aus seinem Land einen Normalstaat machen können. Aber nein! In Lügen verstrickt hat er die Geschichte geleugnet und behauptet, es hätte „nur“ 100.000 Tote gegeben und sie seien für ihre Teilnahme an terroristischen Aktionen getötet worden.

Indem sie sich in diesen Wahn hineinreitet, offenbart die heutige Türkei nicht nur ihre Unterstützung für die Hamidischen Massaker des Sultans Abdülhamid II. (1894–95) – die zwischen 80.000 und 300.000 Opfer forderten –, sondern auch für die Verbrechen durch die „Sonderorganisation“ des Komitees für Einheits und Fortschritt (frz.: CUP) von 1915 bis zur Wahl von Mustafa Kemal Atatürk zum Präsidenten der Republik (1923) – die zwischen 1.200.000 und 1.500.000 Toten forderten – und ihre ideologische Fortsetzung durch das heutige Regime. Die konstatierten wir alle mit Entsetzen, als wir im letzten Jahr, in 2014, sahen, wie die türkische Armee die Al-Nusra-Front (das ist Al-Qaida in Syrien) nach Kessab begleitete und dort die armenische Bevölkerung vertrieb. Oder auch als dieselbe türkische Armee dem Islamischen Staat (Daesh) half, die Gedenkstätte von Deir ez-Zor in die Luft zu sprengen, ein Mahnmal für die Vernichtung von mehr als 200.000 Armeniern im Jahr 1916 in einem Lager, das von den Türken dort für sie eingerichtet worden war.

Ismail Enver, genannt „Enver Pascha“, stürzte Sultan Abdülhamid II., führte aber dessen Politik des Völkermords fort.

Der Panislamismus, das Projekt des Sultans Abdülhamid II. und der Jungtürken von gestern wie das der AKP [der türkischen Regierungspartei] von heute bedeutet, Führer der sunnitischen Welt zu sein und in der Folge einen homogenen sunnitischen Staat zu schaffen. Dieses Vorhaben machte es notwendig, die Christen (Armenier, Pontosgriechen und Assyrer/Chaldäer) sowie die Jesiden zu vernichten. Und so kam es. So wie heute Daesh die Christen und die Jesiden vernichtet.

Die Intervention der türkischen Armee auf syrischem Territorium, in Kessab und Deir ez-Zer, hängt mit diesem Vorhaben zusammen. Recep Tayyip Erdoğan hofft auf die Annexion Nord-Syriens, wenn die Nato den Präsidenten Bachar al-Assad gestürzt hat.

Tatsache ist, dass die panislamistische Ideologie heute zugleich von der Muslimbruderschaft (d.h. durch die AKP, die vom türkischen Zweig der Muslimbrüder kontrolliert wird), Al-Qaida und Daesh unterstützt wird.

Recep Tayyip Erdoğan möchte die Größe des Osmanischen Reiches wiederherstellen. Er hat die Genozid-Strategie von Sultan Abdülhamid II. aufgenommen.

Eine andere Tatsache ist, dass in diesem Teil der Welt seit einem Jahrhundert nur die Türkei und Daesh das Verbrechen des Völkermords begangen haben. Heute hilft die erstgenannte Macht der zweiten, es fortzuführen.

Es ist nicht erstaunlich, dass die Türkei und Daesh sich im Krieg gegen die Arabische Republik Syrien befinden, denn diese steht für das entgegengesetzte Projekt. Das älteste Land der Welt hat jederzeit die verfolgten Völker der Region aufgenommen und ist dadurch zum gegenwärtigen „ethnischen Mosaik“ geworden. In den 2000er Jahren hat der Verteidigungsminister von Bachar al-Assad, General Hassan Tourekmani, eine „Verteidigungsdoktrin“ ausgearbeitet, die auf der Bewahrung dieser Vielfalt beruht [2].

 Dann Israel. Ein Staat, der infolge eines Abkommens von 1917 zwischen London und Washington geschaffen wurde, der aber vorgibt, sich als Reaktion auf den Völkermord an den europäischen Juden durch die Nazis 1942–45 gebildet zu haben. Seine Abwesenheit in Jerewan – um die Kränkung des türkischen Verbündeten zu vermeiden – belegt hinreichend, dass seine Rhetorik nur eine werbewirksame Rechtfertigung ist, die seine kolonialen Absichten maskiert.

Hier lässt sich auch die Rolle der Dönme im Kreise der Jungtürken wiedererkennen. Die Dönme waren eine kabbalistische Sekte, die im 17. Jahrhundert zum Islam konvertierte, um der Verfolgung zu entgehen, aber ihren jüdischen Glauben beibehielt.

Professor Bernard Lewis leugnete fortwährend den von den türkischen Machthabern im 20. Jahrhundert verübten Genozid.

Die Unterstützung Israels für den Völkermord von 1915 ist nichts Neues, war aber bis heute nicht offiziell zum Ausdruck gebracht worden. Man erinnere sich indessen an den Standpunkt von Professor Bernard Lewis, ehemals Berater von Benjamin Netanyahu, als er UN-Botschafter war, danach Mitglied des Nationalen Sicherheitsrates der Vereinigten Staaten und vor allem Fachmann für die türkische Gegenwartsgeschichte. Der Erfinder der Strategie des „Krieges der Zivilisationen“ behauptete in der Tageszeitung Le Monde, das Massaker sei übertrieben dargestellt worden und nie geplant gewesen, obwohl – im Unterschied zum Genozid der Nazis an den Juden – man in diesem Fall über Dokumente verfügt, die das Verbrechen anordneten und die westlichen Staatskanzleien weit im Voraus darüber informierten. Bernard Lewis wurde in Frankreich dafür verurteilt, dem Interesse der armenischen Gemeinde Schaden zugefügt zu haben, indem er in unehrlicher Absicht historische Fakten verschleierte, die seine Darstellung der Wirklichkeit ungültig machten [3].

Die Botschafterin Samantha Power stellte sich im UN-Sicherheitsrat gegen die Verurteilung der türkischen Intervention an der Seite von Al-Qaida gegen die Armenier von Kessab.

- Schließlich die Vereinigten Staaten. Präsident Obama ernannte Samantha Power, die Autorin von „A Problem from Hell: America and the Age of Genocide“ (Ein Problem aus der Hölle: Amerika und das Zeitalter des Genozids), zur UN-Botschafterin. Ausgehend vom Genozid an den Armeniern und von der juristischen Antwort, die Raphael Lemkin für die Gemeinschaft der Nationen darauf zu geben versucht hat, legt sie in dieser Studie die Reaktionen Washingtons auf die Verbrechen dar, die in Kambodscha, im Irak, in Bosnien, in Ruanda und im Kosovo begangen wurden. Schamlos manipuliert sie die historische Wahrheit, entlastet ihr Land von seinen Verantwortlichkeiten und plädiert für seine moralische Autorität, die sich gegen jeden Völkermord stelle. Aber auch Frau Power war nicht in Jerewan – und auch kein anderer politischer Repräsentant ihres Landes.

All jenen, die glaubten, die Vereinigten Staaten hätten sich geändert und versuchten heute aufrichtig die Personen zu schützen, die für ihre Zugehörigkeit zu einem Glauben oder einer Ethnie verfolgt werden, hat das Fehlen der US-Repräsentanz gezeigt, dass Washington keine Moral hat, nur Interessen. Das Gerede von Frau Power ist bloß von Bedeutung, wenn sie – mit oder ohne Beweise – dadurch Feinde der Vereinigten Staaten aburteilen kann.

Durch seine Abwesenheit in Jerewan hat Washington gezeigt, dass es sich auf die Seite des Verbrechens, die Seite der Türkei und des Islamischen Staates, stellt.

Die Erklärungen des Präsidenten Gauck

Als er „eine Mitverantwortung, unter Umständen sogar Mitschuld“ Deutschlands an den Massakern von 1915 anerkannte, hat der deutsche Bundespräsident Joachim Gauck ein Tabu aufgehoben – das der Fortdauer des Verbrechens. Und er hat es mit um so mehr Mut gemacht, als es in Deutschland eine starke türkische Präsenz gibt und keine armenische Wählerschaft.

Als mustergültiger Beamter hatte Rudolf Höß in der Türkei während des II. Reichs Geschick in Völkermord-Angelegenheiten erworben, im III. Reich wurde er dann Leiter des Konzentrationslagers Auschwitz.

Es ist schon länger her, dass die Historiker die Rolle der deutschen Anweisung im Völkermord aufgearbeitet haben. So wurden die Deportationsverfügungen veröffentlicht, die der Stellvertretende Chef des Osmanischen Generalstabs, General Fritz Bronsart von Schellendorf, unterschrieben hatte. Das deutsche Kaiserreich Wilhelms II. hatte sich schon im Völkermord versucht, als es 1905 die Hereros und die Namas in Südwestafrika (heute Namibia) auslöschte. Die deutschen Offiziere, die den Genozid an den Nichtmoslemen in der Türkei beobachteten und sich zum Teil daran beteiligten, nutzten ihre Kenntnisse während des Nazi-Regimes. Da ist zum Beispiel der Fall des Rudolf Höß: Sein Vater nahm am Völkermord an den Hereros 1905 teil, er selbst an dem an den Armeniern 1916; dann wurde er von 1940 bis 1943 Kommandant des Lagers Auschwitz, wo er Juden, Zigeuner und Slawen umbrachte.

Um die Genozide zu verstehen und ihnen vorzubeugen, sollen wir sie nicht unter dem Blickwinkel der Opfer untersuchen, sondern unter dem der Henker begreifen.

Bis heute meint man zu Unrecht, dass die Jungtürken und die Nazis die einzigen Verantwortlichen für die Völkermorde an den Armeniern und den Juden sind. Aber die Geschichte zeigt uns, dass die Ideologien, die zu ihrer Ausübung führten, mit anderen Menschen, die gleichermaßen die Taten zu begehen versuchten, davor und danach geteilt wurden. Im Unterschied zur üblichen Vorstellung gibt es kein Beispiel von Völkermord, der nur ein einziges Mal oder an einer einzigen Bevölkerungsgruppe verübt worden wäre. Diese Verbrechen setzen sich immer für lange Zeit fort und betreffen immer mehrere ethnische Gruppen. Um die Fortführung der Genozide zu verhindern, ist es somit wichtig, schon die ersten Massaker zu verdammen sowie die Ideologien, die ihnen zugrunde liegen.

Übersetzung
Sabine

[1Die UN-Konvention von 1948 fasst die Definition des Genozids weit als „Handlungen, in der Absicht begangen, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören“ (So ist der Genozid nicht notwendigerweise ein Mord: Es genügt, eine Bevölkerung zu sterilisieren, damit sie verschwindet). Im Lauf der letzten Jahre hat der Begriff, den Zusammenhängen entsprechend, eine völlig andere Bedeutung bekommen. Die einen verstehen ihn rein quantitativ. Sie sprechen auch von Genozid, um Massenmorde (zum Beispiel die Vernichtung einer Bevölkerung durch Hunger, der auf ein Wirtschaftssystem rückführbar ist) zu bezeichnen. Für andere, hauptsächlich angelsächsische Juristen, ist der Begriff ausschließlich ein qualitativer. Für sie bezeichnet er jede Art Mord aus Hass, vorausgesetzt er bezieht sich auf die Rasse oder die Religion (zum Beispiel auch die Ermordung einer Einzelperson aufgrund ihrer Hautfarbe).

[2Die Werke des General Tourekmani sind nur in arabischer Sprache verfügbar, aber sein Sohn Ali Tourekmani hat kürzlich eine Studie über sein Werk, Warum Syrien?, veröffentlicht, die zur Zeit übersetzt wird.

[3Condamnation judiciaire de Bernard Lewis“, Réseau Voltaire, 8 juin 2004