Die Statue des kurdischen Generals Saladin der Große am Eingang zur Altstadt von Damaskus. Er befreite 1174 Damaskus und gründete die arabische Dynastie der Ayyubiden.

Es scheint, Herr Präsident, als ob Sie die ganze Wirklichkeit Syriens nicht kennen, die der Geschichte des geweihten Syrien, selbst der jüngeren nicht. Hätten Sie sich doch die Mühe gemacht, auch nur einen Moment lang die berühmte Weisheit zu bedenken, die Präsident Schukri al-Quwatli an den Führer Gamal Abdel-Nasser gerichtet hatte – vom Balkon des präsidialen Palastes in Damaskus aus, wo sie gemeinsam grüßten, Hand in Hand, die Arme zum Zeichen des Sieges erhoben. Die Menschenmenge war gekommen, um die Verwirklichung des Traums zu bejubeln, die schon lange vom Panarabismus erwartet worden war: die Vereinigte Arabische Republik, geboren aus dem Zusammenschluss von Syrien und Ägypten. Das war der 1. Februar 1958.

An diesem denkwürdigen Tag legte Schukri al-Quwatli, der gerade mit dem Titel „Arabischer Bürger Nummer 1“ geehrt worden war, Wert darauf, sich auch an die ehemaligen Kolonialmächte zu wenden, und zwar mit Worten, die es mit großer Aufmerksamkeit zu beachten lohnt: „Unsere Grenzen“, sagte Quwatli, „sind keine Grenzen. Es sind Verwundungen.“ [1]

Prinzipiell, Herr Präsident, ist anzunehmen, dass Sie die Bedeutung dieser beiden Überlegungen dieses ehemaligen syrischen Staatsmannes verstehen. Sie sind mit einer überaus reichen politischen Erfahrung verbunden, die bis 1907 zurückgeht, zu jenem Datum, an dem er die Bewegung Junge Araber begründete, deren Bestimmung es war, „das Gegengewicht zur Bewegung der Jungtürken“ zu schaffen.

In dem vorliegenden bescheidenen Brief geht es nicht darum, die Modalitäten und Ergebnisse Ihrer intensiven kontinuierlichen Teilnahme an dem israelisch-US-amerikanischen Aggressionskrieg auszubreiten und zu kritisieren, der auf die massive Zerstörung des geweihten Syrien und auf seine vollständige Auflösung zielt. Es geht auch nicht darum, eine detaillierte Kritik der tragischen politischen Blindheit Ihres Strategen, des Professors Ahmet Davutoğlu, und seiner unglücklichen „Null-Problem-Politik“ gegenüber den unmittelbaren Nachbarn der Türkei zu leisten … Mein Ziel mit diesem offenen Brief besteht einfach darin, Ihnen die Schwere der Sackgasse zu zeigen, in die Sie die Träume von der osmanischen Allmacht geführt haben. Das kurdisch-syrische Dilemma, vor dem Sie jetzt stehen, ist die perfekte Illustration davon.

Sie haben sich ein kolossales Vorhaben in den Kopf gesetzt, das Ihre eigenen Mittel sehr weit übersteigt: das des großen Marsches nach Süden, der Ihren Schätzungen und Voraussagen zufolge Sie zur erneuten Eroberung des ewigen Damaskus führen wird, der ältesten Hauptstadt der Welt, und zur Feier in ihrer hoch angesehenen Umayyaden-Moschee, die noch immer das Reliquiar des Heiligen Johannes des Täufers birgt, das Gebet zum Ruhm der siegreichen Rache!

Aber das wurde zur großen Verwirrung zwischen Ihren Wünschen und der Realität … Hier sind die Weltmacht-Ambitionen, die sich Schritt für Schritt auflösen „wie ein glanzvoller Traum, der am Morgen fort ist ...“, um im Ergebnis, aufgrund von mittelmäßigem Kalkül, in die aktuelle Konfrontation zwischen der Türkei und den Syrern kurdischer Ethnie zu führen. Genau dort spielt sich die Herausforderung ab.

Ihre Wahlen in dieser Sache enthüllen eine frappierende Unkenntnis der Verhältnisse. Im Gegensatz zur Lage in der Türkei und im Irak ging es nie in Syrien um das „kurdische Problem“, ob seit Beginn des Kampfes gegen die Türkisierung oder später gegen den französischen Kolonialismus oder die ganze Periode der Unabhängigkeit hindurch bis in die Gegenwart. Die aktive Teilnahme der syrischen Bürger kurdischer Ethnie am gesellschaftlichen Leben Syriens hat sich immer ohne falsche Note abgespielt, wie es bestimmte historische Bezugspunkte sehr aufschlussreich bezeugen.

Es genügt, die lange Reihe der syrischen Führer und Lenker kurdischer Ethnie Revue passieren zu lassen, um zu begreifen, in welchem Ausmaß ihr Beitrag zur Verteidigung ihres syrischen Vaterlandes und auch zur Förderung der Thesen über den arabischen Nationalismus entscheidend war. Ja, ich nenne ausdrücklich den arabischen Nationalismus.

Sati al-Husri

Herr Präsident, wussten Sie, dass der Ideologe des modernen arabischen Nationalismus, der berühmte Sati al-Husri, aus der kurdischen Ethnie kam? … Er hat die verschiedenen Schulen des arabischen Nationalismus inspiriert; er wurde von der politischen und intellektuellen Welt zum Leitphilosophen des arabischen Nationalismus erhoben; er hat Hunderte seiner Werke, in der Politik und der Soziologie, der Verteidigung dieses Anliegens gewidmet. Er war überzeugt, dass es die letzte Rettung – einen Strohhalm für die Vielfalt – für diese große Nation bedeutete, die stolz auf ihre Pluralität war und ständig bedroht durch die Kolonialmächte, die nicht aufhörten, Komplotte um ihr Auseinanderbrechen und ihre Zerstörung zu schmieden. 1880 in Sanaa im Jemen geboren, die Eltern aus Aleppo gebürtig, machte er seine bildungspolitische Karriere im Irak als Minister für nationale Bildung unter Emir Faisal I., ehe er nach Syrien zurückging, wo er den Kampf für die Realisierung dieses Zieles fortsetzte.

Statue von Yusuf al-Azma im Zentrum von Damaskus.

Wussten Sie, dass das große Symbol des syrischen Patriotismus, Jusuf al-Azma, auch aus der kurdischen Ethnie stammte? Als syrischer Verteidigungsminister führte er auf den Schlachtfeldern von Maysalun den letzten Kampf gegen die französische Invasion. Das war am 24. Juli 1920, es ist gerade 95 Jahre her. Er hatte beschlossen, die Ehre seines Vaterlandes zu retten, obwohl er im Voraus wusste, dass die Schlacht verloren war. An der Spitze eines Bataillons von 400 mutigen syrischen Soldaten, zur Hälfte Freiwillige, entschied er seinem Volk das äußerste Opfer anzubieten. Der Märtyrer Jusuf al-Azma wurde in Buchstaben aus Blut und Eisen in die Annalen des Heldentums eingetragen. Seitdem hat sich Maysalun aus einem einfachen Marktflecken in eine Bühne des Ruhmes verwandelt. Sein Andenken hört nicht auf, den Wind des syrischen Patriotismus zu beseelen. Von Generation zu Generation werden die Gesänge in Erinnerung an dieses solide Zeichen von Hingebung und Opfer weitergegeben, dessen Denkmal das Zentrum von Damaskus schmückt.

Muhammad Kurd Ali

Und was bleibt zu sagen über Muhammad Kurd Ali, den kurdischen Tscherkessen, der die Akademie der Arabischen Sprache gegründet hat und bis zu seinem Tod 1953 deren Präsident war. Ihm, dem syrischen Minister für nationale Bildung, ist die Verewigung unserer Sprache zu verdanken.

Diese drei Beispiele sprechen Bände über den tiefen und meisterhaften Beitrag syrischer Bürger kurdischer Ethnie zur Entwicklung des weltlichen Konzepts des arabischen Nationalismus und des syrischen Patriotismus. Parallel dazu zeigt sich ein ganzes Arsenal von berühmten Persönlichkeiten derselben Ethnie, die Spuren im öffentlichen Leben Syriens hinterlassen haben, angefangen mit Ibrahim Hananu, dem ersten politischen Führer auf den Rängen der großen patriotischen Revolution zur Befreiung, die von Sultan Pacha el-Atrache gegen die französische Besatzung geführt wurde. Hunderte von Namen stehen symbolisch für die politische Welt, mit ihren verschiedenen soziologischen Komponenten, angefangen von den alten feudalen Familien wie der Familie Barazi, die mehrere Staatsmänner hervorgebracht hat, bis zum hoch charismatischen Chef der syrischen Linken Khaled Bagdache,

Khaled Bagdache

der ein halbes Jahrhundert lang Generalsekretär der kommunistischen Partei war. – Ganz zu schweigen von den Weltstars der Kunst, des Theaters, der Literatur, der Streitkräfte wie auch der religiösen Domäne, in der Scheich Ahmed Kuftaru und der Exeget Muhammad Said Ramadan al-Buti ihre Epoche zum Ausdruck brachten – der erste durch Behauptung seines Postens als Mufti der Republik mehr als vierzig Jahre lang, der zweite durch Besetzung einer privilegierten Stelle im Kreise der Ulemas, ehe er durch die Terroristen der al-Nusra (al-Qaida) mitten in einer Moschee ermordet wurde.

Scheich Muhammad Said Ramadan al-Buti, der am 21. März 2013 in der Großen Moschee von Damaskus durch die Muslim-Bruderschaft ermordet wurde.

Herr Präsident,
erlauben Sie mir Ihnen vorzuschlagen, in aller Objektivität, einige Ihrer syrischen Freunde zu fragen, ob sie wussten, aus welcher Ethnie die eine oder andere der oben genannten Persönlichkeiten kam! … Sie werden Gefahr laufen, Herr Präsident, auf niemanden zu treffen, der in der Lage wäre, Ihnen die richtige Antwort zu geben. Diese Unwissenheit resultiert nicht aus der Tatsache, dass sie ihr Land verkauften, denn man findet sie auch bei syrischen Bürgern, die von Patriotismus und Hingabe für ihr heiliges Syrien beseelt sind. Aber sie ist begründet in der Tatsache, dass die Kriterien der stammesgemeinschaftlichen Bindung absolut fremd sind für die sozio-patriotischen Normen Syriens und hier nie den Anspruch auf ehrenvolle Erwähnung hatten. Das ist der Grund, warum es in den Archiven der Arabischen Republik Syrien keinen Hinweis auf eine Volkszählung auf der Grundlage stammeskommunitaristischer Kriterien gibt. Genau hierin entdeckt man die Seele Syriens in all ihrer Schönheit, in ihrer Wahrhaftigkeit. Denn gemäß dem syrischen patriotischen Wörterbuch ist diese Art Kunstgriff sittenwidrig, heuchlerisch, nichts als ein makabres Kalkül von Zauberlehrlingen. Ein beschämender Trick, unwürdig eines freien Menschen. Er dient als Werkzeug für dauernde Verschwörungen der Imperialisten und ihrer Lakaien.

Seit den Anfängen dieses Angriffskriegs gegen unser geweihtes Syrien hören die Wogen falscher Statistiken über die Mitgliederzahlen von dieser oder jener Ethnie oder Religionsgemeinde nicht auf, quer durch die herrschenden Medien zu branden mit dem Ziel, ethnische und stammesgemeinschaftliche Gegensätze zu erschaffen und anzuheizen, um die Interventionen der Nato zu rechtfertigen. Das Wissen, dass diese falschen Statistiken aus einer einzigen Quelle, der Muslim-Bruderschaft stammen, haben Sie. Diese brilliert im Kunstgriff der makabren Kalküle, die einer historischen Konstante der Kolonialmächte gleichkommen, ein Teil des allgemeinen Rahmens ihrer berühmten „orientalischen Frage“ sind und den kriegslustigen Juckreiz verstärken.

Herr Präsident,
die einfache Tatsache, dass Sie all diese Realitäten nicht beachten, musste Sie in die gegenwärtige Sackgasse führen. Sie haben sich in ein Kriegsunternehmen gestürzt, für das Sie weder Kommandant noch Steuermann sind, sondern nur Subunternehmer. Kommandiert wird dieses Unternehmen durch den obersten Chef Ihres atlantischen Klans. Er kommt nicht zu Ihnen, um den Weg dieses Krieges noch seinen Zweck festzulegen. Die Sultansträume sind heutzutage nicht realisierbar. Was an Ihnen, Herr Präsident, am meisten verwundert, ist Ihre totale Unkenntnis der Mechanismen der osmanischen Strategie, besonders in Sachen Expansionismus. Durch Anschluss an die europäische Taktik, die darin besteht, die Karte der kommunitaristischen und sektiererischen Konflikte auszuspielen, können Sie das Sultanat nicht wiedergewinnen. Vergessen Sie nicht, dass diese Taktiken bereits die osmanische Ordnung untergraben hatten. Ich werde Ihnen noch mehr als das erzählen: Die Europäer könnten zu dieser Art von Taktik greifen, um die heutige Türkei zu zerstören. Dies könnte so kommen, weil die Regionalisierungsvorhaben, die für die obere Führungsebene der Europäischen Union eine strategische Wahl darstellen, den Zentralismus der Vereinten Nationen in Europa untergraben – zum Vorteil der Bündnisinstanzen, die durch Gruppen von nicht gewählten Technokraten gelenkt werden. Wenn dies so ist, würde das europäische Projekt, dem die Türkei beizutreten hofft, zu ihrer Regionalisierung führen auf die Weise, dass jede ihrer Regionen imstande wäre, Verträge abzuschließen, Abkommen zu unterzeichnen und – warum nicht? – Bündnisse mit anderen Regionen Europas oder nach anderswo ohne die vorherige Zustimmung der türkischen Regierung einzugehen.

Audienz im Präsidentenpalast in Damaskus (1955). In der Mitte der erste Präsident der Arabischen Republik Syrien, Schukri al-Quwatli (im Anzug), rechts von ihm der Vater des Widerstands gegen die französische Besatzung, Sultan Pacha al-Atrach (mit Keffieh).

Herr Präsident,
die falschen Kalküle können nie tugendhaft werden. Sie malen virtuelle Siege in verlockenden Farben aus. Durch Beitritt zu den westlichen Taktiken werden Sie riskieren, Ihr eigenes Land in Feuer und Blut zu stürzen. Mir scheint, Sie haben keine Vorstellung von dem Bumerang-Effekt, dessen Vorbedingungen sich fühlen lassen und dessen Schäden und Niederschläge für die Türkei schwer einzuschränken sein werden. Sie merken nicht, dass Sie dabei sind, rückwärts zu galoppieren. Ihre westlichen Verbündeten verstecken sich hinter Ihnen, um ihre Todesschwadronen auf syrisches Territorium einzuschleusen, ohne zu vergessen, Ihre vollständige strafbare Nachsicht mit der Organisation Daesh zu brandmarken, insbesondere in dem Krieg, den Sie gegen die syrischen Bürger kurdischer Ethnie führen. Ihre geographische Bulimie wandelt sich durch die Eigendynamik der Dinge in eine Anorexie. „Nur die Sicherheit tötet, nicht der Zweifel“, sagte Friedrich Nietzsche.

Heute, Herr Präsident der türkischen Republik, während Ihre Todesschwadronen, al-Quaida und ihre Ableger al-Nusra/Daesh und Co., alle Arten von Massakern und Vandalismus gegen das Volk des geweihten Syrien ausüben, indem sie dessen berühmtes Vaterland kultisch und kulturell nach dem Plane der Nato und ihrer regionalen Militärbasis Israel zerstören, heute können Sie in den Straßen der Städte und Dörfer, über die Ebenen, die Täler und die Gebirge des geweihten, durch diese politisch korrekte Barbarei tief getroffenen Syrien hinweg, das Echo der Gesänge hören, die dem Ruhm Maysaluns gewidmet sind und auf die „Verwundungen“ anspielen, die Schukri al-Quwatli heraufbeschworen hat:

Bei jeder unserer Reisen erinnern wir uns an Maysalun
Und von der Erde Palästinas hören wir die Hilferufe aus Alexandretta.
Geduld, liebes Vaterland … Geduld
Nichts kann dich von uns trennen
Nichts kann uns von dir trennen
Du bist und du bleibst die Arterie, in der unser Blut strömt
Du bleibst unser liebes Vaterland, unser Mutterland, unser heiliges Land
Du bleibst Suriana
.“

Herr Präsident,
ich kann diesen Brief nur beenden in ehrerbietiger Hochachtung für die Märtyrer des geweihten Syrien, für die Kinder, die Frauen und die alten Leute, für all die Unschuldigen, die durch Ihre terroristischen Organisationen ums Leben gebracht wurden.

Übersetzung
Sabine

[1Un printemps arabe, von Jacques Benoist-Méchin, Albin Michel, 1959, S. 314.